Innovationsdruck in der Technikindustrie:Fressen oder gefressen werden

Infografik zu Übernahmen der Technikkonzerne

Ganz schön was los: Übernahmen der Technikkonzerne

(Foto: Julia Kraus/SZ-Grafik)

Wer in der Netz- und Technikwelt überleben will, muss sich ständig neu erfinden. Das Tempo ist so gewaltig, dass auch Megakonzerne zu spektakulären Zukäufen gezwungen sind. Doch echte Innovationen sind viel seltener als es den Anschein hat.

Von Pascal Paukner

Es geht natürlich ums Fressen. Es geht ums Mampfen. Immer nur geht es darum, stundenlang. Wer erfolgreich sein will, muss schlucken. Links und rechts, oben und unten - überall warten in dieser Fabelwelt bunte Pillen. Wer nicht schnell verschlingt, verliert. Pacman, das vielleicht bekannteste Videospiel der Welt, ist ein brutales Spiel. Trotz dieser niedlichen Grafik, trotz dieser lustigen Figuren. Das Spiel, das Generationen von Jugendlichen geprägt hat, ist eine Parabel auf den Kapitalismus. Wer schneller futtert als die Konkurrenz, gewinnt. Wer den falschen Weg einschlägt oder zu langsam ist, den holen die bösen Geister.

In der Technikszene, unter Programmierern, ist Pacman auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung ein Hit. Nicht nur haben die gefräßigen Monster in der inzwischen allseits beliebten Nerdkultur einen festen Platz gefunden. Das heißeste Pacman-Spiel aller Zeiten trägt die Branche seit einiger Zeit mit sich selbst aus. Es wird gefressen, verzehrt und verschlungen. Allerdings nicht bunte Pillen, sondern kleinere Konkurrenten. Google kauft Nest. Facebook übernimmt Whatsapp. Apple holt sich Beats. Und das alles innerhalb weniger Monate. Immer wieder wechseln Milliardensummen den Besitzer.

Kaum irgendwo sonst ist das Tempo höher als in dieser Branche. Kaum irgendwo sonst müssen Unternehmen so schnell reagieren, so schnell Kurs und Richtung ändern wie in jener Industrie, die unseren Alltag vernetzt. Ein Konzern wie Microsoft, der vor 15 Jahren noch unbezwingbar schien, ist heute in der öffentlichen Wahrnehmung zum Vergangenheitsverwalter verkommen. Ein Unternehmen wie Google, das vor 15 Jahren gerade erst erdacht wurde, bestimmt heute den Alltag von Millionen Menschen. Ein Start-up wie Instagram? Wird anderthalb Jahre nach seiner Gründung für eine Milliarde Dollar verkauft. Wer sich auf die Suche nach den Gründen für diese Entwicklung macht, stößt immer wieder auf ein Wort. Es lautet: Innovationsdruck. Doch worum geht es dabei überhaupt?

Es genügt nicht, einfach mal irgendetwas zu machen

Der rumänisch-amerikanische Industrieanalyst Horace Dediu schrieb kürzlich, es sei leicht, eine Definition für das Wort Innovation zu finden. Viel zu selten aber würden die Leute verstehen, was damit gemeint sei. Deshalb schlug er vor, sich dem Begriff mit einer Taxonomie, einem Klassifikationsschema, zu nähern. Dediu grenzt Innovationen ab von den konkurrierenden Begriffen Invention, Creation und Novelty. Man muss sich das Ganze wie ein hierarchisches System vorstellen: Eine Novelty ist in diesem System schlicht etwas Neues. Eine Creation ist etwas Neues und Wertvolles. Eine Invention beschreibt etwas Neues, Wertvolles und Einzigartiges. Innovationen schließlich, als Krönung der Schöpfung, sind neu, wertvoll, einzigartig und nützlich. Will ein Unternehmen also innovativ sein, genügt es nicht, einfach mal irgendwas anders zu machen. Es gilt, gleich vier Voraussetzungen zu erfüllen.

Wer genau hinsieht, merkt schnell: Vieles von dem, was uns als revolutionär, als disruptiv wie sie im Silicon Valley sagen, verkauft wird, erfüllt in Wahrheit nur ein, zwei oder drei der Anforderungen. Hat man aber tatsächlich eine Innovation zustande gebracht, ist das nur der Anfang. Wer einmal innovativ ist, kann sich darauf nicht ausruhen. Innovationen lassen sich im Vergleich mit anderen Neuheiten sogar besonders schlecht vor Nachahmern schützen. Das Patent- oder Urheberrecht hilft nur selten. Was hilft, ist Marktmacht. Will man beispielsweise das Logistiksystem von Amazon kopieren, wird einen kaum ein Patentanwalt davon abhalten. Ähnliches gilt für den Werbevertrieb von Google oder die Wohlfühlwelt von Apple. Als Facebook in Deutschland vor etlichen Jahren gegen StudiVZ ankämpfte, war es nicht wegen irgendwelcher Gerichtsentscheidungen erfolgreich, sondern weil es größer und schneller gedieh als der Konkurrent.

Alles was Wachstum entgegensteht, muss angegangen werden

In Wahrheit handelt es sich beim iPhone, der Google-Suche oder der Amazon-Webseite nicht um Innovationen. Das sind Erfindungen, die sich schützen lassen. Das Trara rundherum, das Ökosystem, das Apple um das iPhone gebaut hat, hingegen - das ist die Innovation. Ähnlich verhält es sich mit der gigantischen Produktwelt, die Google im Angebot hat und die dazu dient, noch bessere Werbung zu verkaufen. Die Amazon-Webseite, die Kindle-E-Books, das neue Fire Phone sind keine Innovationen. Eine Innovation ist hingegen, dass Amazon diese Plattformen so günstig anbietet, dass weite Teile der Bevölkerung sie als Grundlage für weitere Einkäufe nutzen können.

Weil die Anforderungen an diese Geschäftsmodelle so hoch sind, stehen die Unternehmen unter ständigem Innovationsdruck. Die Konzepte sind auf Größe ausgelegt, also muss alles, was einem künftigen Wachstum entgegensteht, mit voller Macht angegangen werden. Die Technikkonzerne haben dafür zwei Strategien gefunden: Wenn sie neue Technologien früh genug entdecken, setzen sie ihr Wissen, ihr Kapital und ihre Marktmacht ein, um kleine Start-ups auszubooten. Sie bauen die Ideen einfach nach, solange die Kleinen noch unbedeutend sind.

Oft aber gehen die Veränderungen so rasch vonstatten, dass die großen Konzerne überrumpelt werden. Nirgendwo sonst kann eine Innovation so schnell und kostengünstig wachsen. Abgesehen von geringen Ausgaben für die Hardware-Infrastruktur macht es kaum einen Unterschied, ob eine Software wie Whatsapp von einer oder von 50 Millionen Menschen genutzt wird. Wer hingegen ein Bauunternehmen leitet, weiß: Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man 100 oder 5000 Gebäude im Jahr errichtet.

Die Großen müssen schnell sein

Wenn es dann mal wieder einer der Kleinen geschafft hat, dann müssen die Großen schnell sein. Dann ist da auf einmal ein Konkurrent wie Whatsapp, der von Abermillionen Menschen tagtäglich neben Facebook genutzt wird. Dann ist da auf einmal eine Plattform wie Tumblr, auf der Menschen ihre Zeit verbringen, anstatt werbefinanzierte Angebote von Yahoo zu benutzen. Ja, dann ist da auf einmal ein smarter Anbieter von Haushaltsgeräten und irgendjemand bei Google denkt sich: Mensch, was die machen, könnte uns ja helfen, die Welt noch ein bisschen besser zu verstehen.

Ist es erst einmal so weit gekommen, dann hilft den Konzernen oftmals nur noch das, wovon sie am meisten haben: Cash. Dann greifen sie zu und blättern Milliarden hin. Das geht gut, wenn dadurch das funktionierende Geschäftsmodell unterstützt wird. Es geht aber auch mal schief, wenn wie etwa im Fall von Microsoft und Nokia, die Vorzeichen nicht stimmen. Wenn beide sich vereinigenden Unternehmen die hohen Voraussetzungen an Innovation nicht erfüllen, helfen auch die Gesetze der Mathematik nicht. Minus mal minus ergibt dann nicht Plus, sondern ein noch viel größeres Minus. Und ja: Es kommt auch vor, dass einfach mal gekauft wird, weil das Geld da ist. Google hat das mit der Motorola-Übernahme gezeigt. Deren Sinn hat sich bis heute kaum jemandem erschlossen.

Selbst Apple investiert jetzt Milliarden in andere Firmen

Die überraschendste unter den nicht überraschungsarmen Übernahmen der vergangenen Monate war vielleicht jene, die Apple bekannt gegeben hat. Apple zählt nicht nur in nahezu allen Kategorien, die der Kapitalismus als bedeutsam anerkennt, zu den Besten. Apple gilt in der Branche und der breiten Bevölkerung als Maßstab für Innovation. Das Unternehmen ist hochprofitabel. Alles, was die kalifornische Firma auf den Weg bringt, dient alleine dazu, mehr Smartphones, Tablets und sonstige Computer zu verkaufen.

Bislang war das Geschäftsmodell so ausgerichtet, dass das Unternehmen weitgehend ohne fremde Hilfe ausgekommen ist. Steve Jobs, dem asketischen Konzerngründer, wurde sogar eine ausgesprochene Abneigung gegen die Übernahme anderer Firmen nachgesagt. Aufsehenerregende Zukäufe lehnte er ab. Geld legte er für Krisen an, nicht um die Konkurrenz auszubezahlen. Es ging um den Sieg aus eigener Kraft. Wer wirklich gewinnen will, darf die Konkurrenz gar nicht erst heranwachsen lassen, sodass eine Übernahme nötig wäre. Das war das Denken, das lange erfolgreich war, weil Apple viel weniger Produkte und Dienstleistungen anbot als mancher Wettbewerber. Apple profitiert auch heute, Jahre nach Jobs' Tod, noch davon. Kein anderes Unternehmen hat einen so gut gefüllten Geldspeicher. Dieser Konzern steht da wie ein Bollwerk.

Und doch platzte in den Frühsommer dieses Jahres die Nachricht von der Milliardenübernahme. Drei Milliarden hat Jobs' Nachfolger, Tim Cook, für den Kopfhörerhersteller Beats geboten. Drei Milliarden sind weit mehr, als Apple jemals zuvor für ein anderes Unternehmen ausgegeben hat. Was will der Konzern nur mit einer Kopfhörerfirma, deren Design gar nicht so recht zum stilbildenden Cupertino-Minimalismus passt?

Die Übernahme hat wahrscheinlich nichts mit Kopfhörern zu tun

Die Antwort auf diese Fragen hat wahrscheinlich nichts mit Kopfhörern zu tun. Die Antwort hat mit Innovation zu tun. Damit, dass selbst Apple fürchtet, die neuen, wertvollen, einzigartigen und nützlichen Ideen könnten dem Konzern irgendwann abhanden kommen. "Beats bringt Typen mit seltenen Fähigkeiten zu Apple. Jungs wie die werden nicht jeden Tag geboren. Sie verstehen die Musik vollkommen. Wir bekommen also eine Talentinfusion", so beschrieb es Apple-Chef Tim Cook.

Im Videospiel Pacman gelangt man nur dann in den nächsten Level, wenn man alle Pillen aufgefressen hat. In der Technikbranche ist das ähnlich. Wer hier die nächste Innovationsstufe erreichen will, muss sich am großen Fressen beteiligen. Sonst geht es wie im Spiel und man wird irgendwann zum Opfer der Geister, die man rief.

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