Ingrid Brodnig:Wie sich Lügen im Netz verbreiten

Ingrid Brodnig

Ingrid Brodnig ist eine österreichische Journalistin und Publizistin. Sie beschäftigt sich vor allem mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung.

(Foto: Ingo Pertramer / Brandstätter Verlag)

Populisten missbrauchen das Internet als Plattform für Propaganda. Das bedroht die Demokratie - doch Nutzer können sich dagegen wehren.

Von Ingrid Brodnig

Ingrid Brodnig ist Publizistin mit Fokus auf die digitale Debattenkultur. 2017 wurde sie zum "Digital Champion" Österreichs für die Europäische Kommission ernannt, als solche soll sie die Digitalisierung Europas mit vorantreiben.

Am 26. Juni erscheint ihr drittes Buch​ "Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren". Ein gekürzter Auszug vorab:

Sonntagabend, 12. März 2017: Im Eiltempo verbreitet sich eine Meldung im Internet, ihre Schlagzeile lautet: "Merkel hofft auf zwölf Millionen Einwanderer". Tausende Menschen macht dieser Bericht wütend, sie klicken auf "Gefällt mir", teilen die Nachricht. Sie schreiben Kommentare wie: "Dahin soll die Reise gehen, Umvolkung, das ist das Ziel der Elite (...)" Oder sie posten über die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: "Diese Tante muss mann zum Teufel jagen, und der Asylanten Bus soll die erwischen."

In der erhitzten Debatte fällt vielen Bürgern eines aber nicht auf: Diese Meldung ist irreführend. Sie lässt sich als Paradebeispiel einstufen, wie online mit Halbwahrheiten oder falschen Behauptungen Stimmung gemacht wird, wie Nutzer durch unseriöse Meldungen in Wut versetzt werden. Angela Merkel hat gar nie gesagt, dass sie auf 12 Millionen Einwanderer "hofft" - die "Hoffnung" wurde ihr in den Mund gelegt.

Die Wirkung bleibt nicht aus: 25 000-mal haben Nutzer bei dem emotionalisierenden Beitrag auf "Like" geklickt, ihn kommentiert oder geteilt. Solche Zahlen sind selbst für große Nachrichtenhäuser selten. Allerdings kommt der Artikel nicht aus einem etablierten Medium, er stammt von einer eher unbekannten rechten Seite, die den Klickerfolg feiert.

Emotionen schlagen Fakten

Gerade unseriöse, emotionalisierende Berichte sind oft beeindruckend erfolgreich. Sie erreichen auf sozialen Medien mitunter ein größeres Publikum als manch eine ausgewogene, nüchterne Recherche. Im Netz ist ein Markt an Irreführung und Desinformation entstanden, der bis zu "Fake News" reicht, also vollständig erfundenen Meldungen. Viele Bürger bemerken gar nicht, dass sie solche Falschmeldungen konsumieren und dabei unseriösen Portalen Vertrauen schenken.

So wie an jenem 12. März 2017. Eine 55-jährige Bayerin ist auf Facebook unterwegs. Sie scrollt auf ihrem iPhone durch die neuesten Meldungen, bleibt bei dem Text hängen, dass Angela Merkel auf 12 Millionen Migranten hoffe. Auch sie wird wütend, tippt in ihr Smartphone: "Die Frau und ihre Helfer müssen weg - hoffentlich kann die AFD noch was retten !!! Wenn die Wahl mit Rechten Dingen zu geht !! Was ich bezweifle". Sieben Nutzer liken ihre Wortmeldung.

Womöglich hätte die Frau gar nie erfahren, dass der Bericht so nicht stimmt, dass einzelne Behauptungen falsch oder irreführend sind. Das erfährt sie erst, als ich sie ein paar Tage später auf Facebook kontaktiere und um ein Interview bitte. "Es ist einfach so: Was geschrieben wird, wird geschrieben, weil die Leute das hören wollen. Weil sie lesen wollen, was sie selber denken", sagt die Bayerin am Telefon. Sie ist eine der ganz wenigen, die sich anonym zu einem Gespräch bereit erklären.

Der Wahrheitsgehalt einer Behauptung interessiert nur noch am Rande

Die 55-Jährige ist höflich, gesprächsbereit und zugleich erbost über die Politik. Wir unterhalten uns zweieinhalb Stunden lang - sie erzählt mir, dass Flüchtlinge besser behandelt würden als Einheimische und sie damit rechnet, dass bald ein Bürgerkrieg zwischen den, wie sie es nennt, "Normalbürgern" und anderen ausbreche. Früher hat die Frau CSU gewählt - jetzt will sie zur Alternative für Deutschland (AfD) wechseln.

Ein Aspekt interessierte mich besonders: Wie denkt sie über den Bericht, dass Angela Merkel auf zwölf Millionen Migranten hofft. Ärgert es sie, dieser irreführenden Meldung geglaubt zu haben? Die Frau sagt: "Was heißt ärgern? Ärgern tut es mich insofern nicht, weil ich der Meinung bin, es kann passieren. Auch wenn es jetzt momentan nicht gestimmt hat, ist es doch eine Meldung, die passieren kann - wenn nicht heute oder morgen, dann vielleicht in einem halben Jahr. (...) Dass die Merkel noch mehr Millionen ins Land reinholt, das kann jeden Tag passieren."

Wie antwortet man Menschen, die erklären, dass eine falsche Information zwar nicht wahr sei, aber eines Tages doch noch wahr werden könnte? Die Bayerin ist mit dieser Sichtweise nicht allein. Gerade in sozialen Medien beobachten wir eine Polarisierung. Falschmeldungen werden genützt, um bestehende Vorurteile zu schüren und bestehende Bruchlinien in der Gesellschaft zu vertiefen. In solch polarisierten Debatten geht es nicht mehr darum, ob eine Behauptung belegbar ist, sondern ob sie dem anderen politischen Lager schadet. Wie Fehlinformation und Halbwahrheiten das demokratische Klima verätzen, können wir bereits beobachten.

Worst-Case-Szenario für unsere Demokratie

Ein Beispiel aus Italien: Im Dezember 2016 stimmte das Land über eine Verfassungsreform ab, die den Senat geschwächt hätte. Das Referendum scheiterte schließlich. In den Wochen vor der Wahl kursierten haufenweise Falschmeldungen. Die Faktenchecker-Seite "Pagella Politica" wertete die zehn stärksten Texte zum Referendum auf sozialen Medien aus, gemessen wurde die Interaktion, also Likes, Shares und Retweets.

"Die Resultate sind nicht ermutigend", schreiben sie. Unter den zehn erfolgreichsten Texten sind fünf problematisch: Bei vier handelt es sich um glatte Falschmeldungen, eine ist in ihrem Titel schwer irreführend. Die erfolgreichste Meldung auf Social Media trug die Überschrift: "Wahlzettel wurden bereits mit 'Ja' markiert". In dem Text wird behauptet, dass 500 000 Karten vorab manipuliert worden seien. Das ist eine komplette Erfindung. Insgesamt hat diese Meldung 233 000 Reaktionen auf sozialen Medien ausgelöst - eine beeindruckende Zahl.

Unter den zehn in sozialen Medien am stärksten wirkenden Meldungen zum italienischen Referendum sind also fünf irreführend oder falsch. Dass im Vorfeld von Wahlen pure Erfindungen eine derartig hohe Verbreitung haben und sichtbarer sind als viele tatsächlich recherchierte Geschichten, stellt ein Worst-Case-Szenario für unsere Demokratie dar. Emotion spielt für den Erfolg unseriöser Meldungen und populistischer Akteure im Netz eine große Rolle.

Wer wütend ist, teilt und klickt mehr

Im Englischen gibt es den Satz: "Angry people click more." Wütende Menschen klicken mehr. Tatsächlich wird das zunehmend zu einem Problem für unsere digitale Debatte, weil das Hervorrufen von Wut oft effektiv ist und Politiker oder Medien, die bei ihren Fans oder Lesern solche Aufregung schüren, beeindruckende Zugriffszahlen erreichen.

Der Politologe Timothy Ryan von der University of North Carolina at Chapel Hill führte dazu eine spannende Untersuchung durch. Er schaltete auf Facebook Anzeigen, die Fans des damaligen Präsidenten Barack Obamas ansprechen sollten. Ein Teil der Werbeeinblendungen löste gezielt Zorn aus. Wütend machende Inserate hatten mehr als doppelt so viele Zugriffe wie die neutrale Botschaft. Gerade Rechtspopulisten beherrschen dieses Spiel mit der Wut gekonnt.

Am 1. März 2017 gastierte der Chef der österreichischen FPÖ, Heinz-Christian Strache, beim politischen Aschermittwoch der AfD Bayern. Die Menge tobte, das Weißbier floss, der Festsaal war in blauweiße Fahnen gehüllt. Und Ehrengast Strache erklärte den begeisterten deutschen Zuhörern, wie das mit den Medien tatsächlich so funktioniert: "Ich bin kein Freund des Pauschalbegriffs 'die Lügenpresse'. (...) Aber wir haben es mit einer Systematik zu tun, wo oftmals Journalisten gar nicht mehr frei berichten dürfen, wo alles durchgeschaltet ist, gleichgeschaltet ist. (...) Da gehen zu recht immer mehr Menschen - auch bei euch in Deutschland - hinein in die moderne Kommunikation, man nennt es auch alternative Medien, weil es dort Meinungsvielfalt gibt."

Der Rechtspopulist erklärt zuerst, dass er differenzieren wolle. Er sagt, er würde "nie hergehen und pauschal" urteilen - um es dann einen Atemzug später doch zu tun, indem er konstatiert, dass "alles durchgeschaltet" sei. Der Politiker suggeriert bei den eigenen Anhängern eine große Verschwörung innerhalb der Medien. Praktischerweise liefert er gleich eine Empfehlung mit: "Hinein in die moderne Kommunikation". Wobei er gleich klarstellt, welche moderne Kommunikation er meint: "Man nennt es auch alternative Medien."

Das hilft gegen Lügen und Desinformation

Strache ist nicht der einzige Populist, der seinen Wählern eine Abschottungsstrategie gegenüber etablierten Medien empfiehlt. Trump hat im Wahlkampf zu Anhängern gesagt: "Vergesst die Presse, lest das Internet. Studiert andere Dinge, geht nicht zu den Mainstreammedien." So zitierte ihn das Colorado Public Radio - ein öffentlich-rechtliches Medium, dem Trump dann als Präsident, wie allen anderen auch, die Finanzierung aus Bundesmitteln strich.

Diese Zitate deuten bereits auf die mediale Strategie von Rechtspopulisten hin: Sie nähren den Zweifel an etablierten Medien und empfehlen kraftvoll, ins Internet auszuweichen. Und ausgerechnet im Internet finden sich dann "alternative Medien", die auffallend positiv über den jeweiligen Rechtspopulisten berichten.

March for Truth

In Los Angeles protestieren Teilnehmer des "March for Truth" gegen die angeblichen Lügen des US-Präsidenten Trump.

(Foto: AFP)

Auch in Deutschland gibt es längst rechte Webseiten, die mit einer freundlichen Berichterstattung über die dortigen Rechtspopulisten auffallen: Die Zeit nannte das umstrittene Compact Magazin einmal den "publizistischen Arm der AfD". Ein solches Urteil erscheint wenig überraschend, wenn man einzelne Texte von Chefredakteur Jürgen Elsässer liest.

Als die AfD ihre Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl wählte, schrieb Elsässer dazu in einer "Eilmeldung": "Der Parteitag der Einigkeit geht weiter. Mit über 90 Prozent wurde das Wahlprogramm beschlossen, mit 67 Prozent setzte sich das Spitzenduo Gauland/Weidel durch. Somit können sich die Liberalen im Westen ebenso vertreten fühlen wie die Patrioten im Osten. Kein quälender Streit, keine Kampfabstimmungen - sondern Geschlossenheit - das ist wunderbar!"

Petry: Gegenangriff statt Entschuldigung für die Falschbehauptung

Rund um rechtspopulistische Parteien wuchs im Netz eine eigene Echokammer heran, in der Bürger permanent mit Schreckensmeldungen und auch Halbwahrheiten passend zur Parteilinie versorgt und bedient werden. Und selbst wenn auffliegt, dass sie eine falsche Behauptung verbreitet haben, reagieren einzelne Politiker oft nicht sonderlich transparent.

Am 8. Februar 2017 postete die Fanpage der AfD-Politikerin Frauke Petry auf Facebook: "BKA bestätigt: Flüchtlinge krimineller als Deutsche." Allerdings stimmte das nicht: Einen solchen Bericht des Bundeskriminalamts gab es nicht. Erst Tage später adaptierte Petrys Team den Eintrag und fügte ein Update hinzu, dass das BKA "keinen Vergleich der Kriminalitätsrate von Migranten und Deutschen" vorgenommen habe.

Im aktualisierten Beitrag erklärte die AfD dann gleich auch, dass es solche Zahlen womöglich nicht gebe, weil das BKA "eventuell politisch motiviert" sei. Anstatt sich für die eigene falsche Behauptung bei den Lesern zu entschuldigen, wurde also die Möglichkeit eines politischen Komplotts in den Raum gestellt.

Was wir tun können

Jeder kann etwas dazu beitragen, dass es Fälscher etwas schwerer haben. Der erste Schritt ist, selbst ein möglichst gutes Radar für dubiose Behauptungen zu entwickeln. Oft sind es simple Tricks, die überraschend gut funktionieren: Scrollen Sie bis ans Ende der Webseite und schauen Sie, ob ganz unten ein Hinweis steht wie: "Das ist alles nur Satire und frei erfunden." Oder werfen Sie einen Blick ins Impressum der Seite - dort sollte gesetzlich verpflichtet stehen, wer diese Plattform betreibt. Manch unseriöse Seiten weisen ein eigenartiges Impressum auf, dann ist etwa zu sehen, dass "Anonymous Ltd." der Betreiber sei.

Das Buch von Ingrid Brodnig

"Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren", Brandstätter Verlag, ISBN: 978-3-7106-0160-6. Mehr Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie hier auf der Webseite des Verlags.

Der wichtigste Tipp in der aktuellen Debatte ist: Lassen Sie sich nicht verwirren - behalten Sie in Erinnerung, dass es sehr wohl Fakten gibt. Mit Begriffen wie "alternative Fakten" wird suggeriert, dass Tatsachen reine Ansichtssache seien. Auch online lässt sich erkennen, wie erfolgreich diese Rhetorik ist. Mir erklärten schon Nutzer, "auch Fakten können verschieden interpretiert werden - der Leser entscheidet". Sowie: "Wer kann Fakten schon prüfen." Das Wesensmerkmal von Fakten ist deren unmissverständliche Überprüfbarkeit - ansonsten wären es keine Fakten, sondern nicht belegbare Behauptungen.

Wir sind machtlos gegenüber Lügen und Desinformation? Unsinn!

Faktenchecks sind ein Teil der Lösung, um die öffentliche Debatte wieder etwas sachlicher zu machen. Eine Studie gibt Hoffnung: Die Politologen Brendan Nyhan und Jason Reifler analysierten, ob sich Politiker durch Faktenchecks zu einer faireren Rhetorik motivieren lassen. Das Ergebnis ihrer Untersuchung mit rund 1200 US-amerikanischen Politikern: Wenn diese darauf hingewiesen wurden, dass in ihrem Bundesstaat Faktenchecks stattfinden, hielten sie sich merkbar mit Halbwahrheiten zurück und flogen seltener mit falschen Behauptungen auf. Es lohnt sich also, rhetorische Fouls anzukreiden und Parteien an diese mediale Kontrolle zu erinnern.

Die gefährlichste Desinformation, die derzeit kursiert, lautet: Dass wir Lügen und Irreführung hinnehmen müssen und man gegen das politische Spiel mit der Fehlinformation speziell im Netz nichts tun könne. Das Gegenteil ist richtig - wir können sehr viel unternehmen: Das Wichtigste ist, beharrlich auf den Wert von Fakten zu pochen.

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