Hossein Derakhshan:Facebook ist das neue Fernsehen - und macht uns zu Analphabeten

Der Facebook Newsfeed ist sehr wichtig für das Unternehmen, und "FB Purity" stört.

Bei Facebook sollen bald Videos den Newsfeed dominieren - Hossein Derakhshan hält das für gefährlich.

(Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Das geschriebene Wort verliert an Bedeutung, im Internet dominieren Videos. Ein Geschenk für Demagogen - und eine Gefahr für unsere Zivilisation.

Gastbeitrag von Hossein Derakhshan

Demagogen, ob links oder rechts, müssen das Fernsehen einfach lieben. Das Medium ist linear, von Gefühlen getrieben, passiv, dreht sich um Bilder und hat Politik zur Reality-Show degradiert. "Wir amüsieren uns zu Tode" - schon der Medienwissenschaftler Neil Postman hat in dem gleichnamigen Buch gezeigt, dass das Fernsehen das Niveau des öffentlichen Diskurses in den meisten Demokratien erheblich gesenkt hat. Von den USA bis Iran, von Italien bis zur Türkei, Ägypten bis Russland wird ebenso sehr um die Blicke der Zuschauer konkurriert wie um ihre Wählerstimmen.

Noch alarmierender ist eine andere Entwicklung: Nachdem Print-Journalismus an Bedeutung verloren hat, ist das Internet der letzte öffentliche Raum, in dem das Wort im Vordergrund steht - und ausgerechnet das Netz kapituliert gerade vor dem Format des Fernsehens. Das Verständnis des "Streams", wie es Facebook, Twitter & Co. pflegen, tötet das Netz und damit den Journalismus in Textform. Facebook ähnelt mittlerweile eher der Zukunft des Fernsehens als dem, wonach das Internet mehr als zwei Jahrzehnte aussah.

Hossein Derakhshan

Derakhshan (@h0d3r) ist iranisch-kanadischer Autor, Journalist und Medienanalyst. Er ist Verfasser von "Das Internet, das wir bewahren müssen" und Erfinder von "Link-age", einem Kunstprojekt, das Hyperlinks und das offene Netz feiert.

Forscher der Universität Oxford zeigten vor kurzem, dass der Konsum von Online-Videos in den USA und den meisten anderen Teilen der Erde steigt. Die Ausnahme ist Nordeuropa. Das liegt vielleicht daran, dass die Menschen dort ein gesünderes Verhältnis von Leben und Arbeit pflegen und ihr öffentliches Bildungssystem nach wie vor Lesen und kritisches Denken fördert.

Facebook hat angekündigt, dass Videos bald den Newsfeed dominieren werden, denn angeblich vermitteln sie mehr Inhalte in kürzerer Zeit. "Diese Entwicklung hilft uns, viel mehr Information zu verarbeiten" - so die Worte von Nicola Mendelsohn, einer Vizepräsidentin von Facebook.

Facebook und Instagram haben die Hyperlinks getötet

Das bestätigt meinen persönlichen Verdacht aus der Zeit, als ich 2014 aus einem iranischen Gefängnis kam. Ich fand ein völlig anderes Internet vor, in dem Texte in den Hintergrund treten, während Bilder immer wichtiger werden, ob als Fotos oder Bewegtbild. Als einer der Pioniere des Bloggens in Iran realisierte ich nach sechs Jahren der Isolation, dass Blogs, das beste Beispiel einer dezentralen öffentlichen Sphäre, tot waren. Facebook und Instagram hatten die Hyperlinks getötet.

Ziel der Netzwerke ist, ihre Gewinne zu maximieren, indem sie Nutzer in ihrem System halten und sie mehr und mehr Werbung aussetzen. So töteten sie das offene Netz, das auf Links gründete. Das Internet war eher ein Unterhaltungsinstrument geworden als ein alternativer Raum für öffentliche Debatten. Schlimmer noch: Ich realisierte auch ein seltsames Unbehagen unter Jugendlichen, sich in mehr als 140 Zeichen auszudrücken.

Selbstverständlich wird Text nie aussterben, aber die Fähigkeit, über das Alphabet zu kommunizieren, wird in vielen Gesellschaften langsam zum Privileg einer kleinen Elite. Das erinnert an das Mittelalter, als nur Mächtige und Mönche sich mit geschriebenen Worten verständigten. Die restlichen Menschen werden die Analphabeten des 21. Jahrhunderts sein, die hauptsächlich über Bilder und Videos kommunizieren - und natürlich über Emojis.

Eine gesunde Demokratie braucht mehr Texte als Videos

Die entstehende Klasse der Analphabeten, süchtig nach ihren alten Fernsehgeräten oder ihren auf Facebook zugeschnittenen, mobilen Personal-TVs (ich spreche von Smartphones), sie ist eine tolle Sache für die Demagogen. Sehen Sie sich an, wie meisterhaft Donald Trump die Funktionsweise des Fernsehens in seine Gratis-PR-Maschinerie verwandelt hat.

Warum das passiert, hat Neil Postman in seinem Buch 1985 perfekt erklärt. Er beschreibt den Unterschied zwischen dem öffentlichen Diskurs in den USA im 18. oder 19. Jahrhundert und dem von heute. Demnach ist die "öffentliche Meinung" im Zeitalter des Fernsehens eher eine Menge von "Gefühlen als Meinungen, was die Tatsache erklären würde, dass sie sich von Woche zu Woche ändern, wie uns Meinungsforscher sagen".

Postman zufolge produziert das Fernsehen mit seiner unterhaltenden Natur nur Desinformation, die aber nicht gleichbedeutend mit Falschinformation ist: "Sie bedeutet irreführende Information - unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information - Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen aber in Wirklichkeit vom Wissen weglockt."

Die Brexit-Kampagne profitierte von oberflächlichen TV-Debatten

Die Berichterstattung über das Brexit-Referendum im britischen Fernsehen ist ein gutes Beispiel. Während die vielen übertragenen Debatten dem Medien-Kodex des Vereinigten Königreichs zur Neutralität Genüge taten, glauben dennoch einige Beobachter, dass sie dem komplexen und heiklen Thema nicht gerecht wurden. Das gilt insbesondere jetzt, wo bewiesen ist, dass manche Behauptungen des "Leave"-Lagers tatsächlich Desinformation waren, zum Beispiel das Ablenkungsmanöver mit den angeblich 350 Millionen Pfund, die "jede Woche an die EU überwiesen werden". Solche Verzerrungen waren im Netz und in Print schon mehrfach widerlegt worden. Aber über Zahlen und Mathematik zu reden, wirkt im Fernsehen immer langweilig und nutzlos. Ein persisches Sprichwort lautet: "Wenn ein einzelner Idiot einen Stein in einen Brunnen wirft, können ihn einhundert Kluge nicht wieder herausholen."

BBC-Journalist Justin Webb ging so weit, die Schuld ebenjenen Regeln zur Neutralität die Schuld zu geben: "Eine der deutlichsten Botschaften während der Kampagne war, dass die Bürger hungrig nach echtem Wissen waren. Sie wollten jenseits von Behauptung und Gegenbehauptung herauszufinden, was wahr ist." Er schlug dem Guardian zufolge vor, dass "die Medien noch einmal prüfen müssen, wie sie über Politik berichtet und wie sie Menschen zur Verantwortung zieht".

Leser lechzen nach Videos, und die Medien liefern

Die Abenddämmerung des Journalismus in Textform, sei es Print oder online, bedeutet einen allzu vereinfachten, emotionalen politischen Diskurs, uninformierte politische Beteiligung und natürlich mehr Demagogie auf der ganzen Welt.

Im Nachhinein lässt sich kaum sagen, ob es zuerst die Öffentlichkeit war, die mehr Videos forderte, oder ob es die Medien waren, die sich aus Angst vor der Technologie der Adblocker auf Videos stürzten, weil diese mehr Leser anzogen, mehr Anzeigengeld generierten und Werbung dort schwieriger zu blocken war. In jedem Fall sind wir mit den Konsequenzen dieser Veränderung für die Zukunft unserer Demokratien konfrontiert.

Es ist klar, dass wir für eine gesunde und repräsentative Demokratie mehr Texte als Videos brauchen, um uns zumindest den eigennützigen Demagogen zu widersetzen. Das ist kein amerikanisches Problem, das ist eine Gefahr für unsere Zivilisation.

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