Google Street View:Im Geiste der Schrebergärtner

Die Debatte über Google Street View zeugt von einer Privatstraßenmentalität, die es am ehesten noch in Kleingartenkolonien gibt. Die Kritiker übersehen, dass die Straße schon seit der Antike öffentlich ist.

Gustav Seibt

So könnte ein Romananfang aussehen: Man war als ganz junger Mensch zum ersten Mal unsterblich verliebt, und zwar, wie es in den frühen Jahren so geht, bei einem Schüleraustausch über weite Distanz, sagen wir: von Europa in die Vereinigten Staaten.

Das ging ein paar schöne Ferienwochen, tränenreicher Abschied, Briefe, seltenes Wiedersehen, im Lauf der Zeit schließt sich die Glückswunde und wird zu einer schmerzlich-schönen Erinnerung. Längst ist der Kontakt abgebrochen.

Dreißig Jahre später, man ist längst verheiratet und hat Kinder, die bald selbst ins Alter der ersten Liebe kommen, das Leben ist also schon halb vorbei. Da erinnert man sich an die andere Möglichkeit, die nicht hatte Wirklichkeit werden sollen. Und fängt an zu googeln.

Und schnell findet man alles Mögliche: Der geliebte Mensch hat einen sichtbaren Beruf, sagen wir Facharzt, natürlich mit Adresse, sogar einem Patientenranking, womöglich sieht man ein Foto auf einer Praxis-Website, und bei Google Maps mit der Satellitenfunktion schon die ganze Umgebung von oben.

Jetzt kommt Google Street View dazu, und man kann das Haus, in dem der verlorengegangene geliebte Mensch nun schon seit vielen Jahren arbeitet, auch von außen betrachten.

Das Treiben hinter Gardinen

Das Haus zeigt diese Poesie der Unauffälligkeit, die sich in mittelständischer Literatur so gut bewährt: als leere Tafel, die mit Phantasie schnell vollzuschreiben ist. Der oder die Andere aber weiß gar nichts von solchen träumerischen Erkundungen, und wenn die beiden einst Verliebten nicht bei Facebook sind, muss daraus nicht mehr werden. Der kleine, nachgetragene Roman kann im Kopf bleiben.

Wenn viele Leute sich jetzt in Deutschland über die Erfassung ihrer Welt durch Street View aufregen, denken sie wohl kaum an solche träumerischen Möglichkeiten. Sie reden von Privatsphäre und verlegen deren Grenze in die Mitte der Straßen. Niemand habe ein Recht, die Gardinen zu fotografieren, sagte ein Politiker.

Doch, dieses Recht gibt es bisher durchaus. Denn Gardinen sind ja unter anderem dazu da, Blicke abzuwehren, die genau bis zu ihnen dringen dürfen, auch fotografische Blicke. Wer auf Gardinen verzichtet, lässt solche Blicke möglicherweise bis ins Innere seines Zuhauses. Jeder darf sich - im Rahmen der Bauvorschriften - mit Mauern und hohen Hecken umgeben. Aber bis zu diesen von den Bürgern selbst gesetzten Grenzen ist der Raum auf den Straßen öffentlich.

Die Mentalität der Laubenpieper

Durch Street View wird er es nun allerdings für eine unüberschaubar große, potentiell globale Öffentlichkeit - etwa für den Europäer, der sich das Umfeld seiner verschollenen Jugendliebe in Amerika anschauen möchte. Gerade wer zurückgezogen, kleinstädtisch, vorörtlich lebte, konnte sich bisher in der Illusion wiegen, er habe ungefähr im Blick, wer da neugierige Blicke durch sein Gartentor werfe. Mit solcher scheinbaren Symmetrie ist es nun, im Grunde übrigens schon seit Google Earth, vorbei.

Google Street View - London

Palace of Westminster mit dem Big Ben in London, Großbritannien in Street View: Den Erdball zum Nahbereich des öffentlichen Raums gemacht.

(Foto: dpa)

Allerdings muss man hier unterscheiden: Wer in der Mitte von Großstädten, vor allem in historischen Zentren wohnte, lebte - in Rom zum Beispiel schon seit Jahrhunderten - mit den alteuropäischen Vorformen von Google Maps und Street View: Es gab gestochene Draufsichten von seiner Wohnumgebung, Fotos von den Straßenzügen, von einzelnen Häusern, die oft nach Hausnummern in den Führern standen, weil sie bemerkenswerte Fassaden hatten oder berühmte Bewohner.

Pariser, Londoner, Römer leben seit jeher in privaten Wohnkapseln inmitten eines öffentlichen Raums, der von Millionen Besuchern durchstreift wird. Die Privatheit beginnt an der verrammelten Wohnungstür, keinen Schritt früher. Schon im Treppenhaus herrscht unübersichtliches Kommen und Gehen.

My home is my neighbourhood

Der jetzige Widerspruch gegen Street View zeigt kultursoziologisch die Privatstraßenmentalität von Laubenpiepersiedlungen, Vorortvierteln und Villenkolonien; nicht my home is my castle, sondern my neighbourhood.

Dass innerhalb solcher Nachbarschaften keine Gardine und keine Hecke davor schützen, dass jeder vom anderen alles weiß, fällt in dieser Sicht nicht auf. Das Problem, das wir mit Google haben, besteht vielmehr, wie bei den anderen Funktionen, nicht im unmittelbaren Angebot, sondern in den Möglichkeiten der Vernetzung, die schon heute niemand überschaut, die aber völlig unberechenbar werden.

Ein veraltetes Begriffsinstrumentarium

Google Street View - San Francisco

Golden Gate Bridge in Street View: Sie reden von Privatsphäre und verlegen deren Grenze in die Mitte der Straßen.

(Foto: dpa)

Das Problem ist, kurz gesagt, nicht die Privatheit des gesammelten Materials, sondern seine Fülle und unbegrenzte Verfügbarkeit. Der traditionelle Datenschutz wirkt deshalb so hilflos, weil er bisher mit einem zusehends veraltenden Begriffsinstrumentarium operiert, nämlich fast ausschließlich mit der Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatsphäre.

Doch diese Unterscheidung ist stumpf geworden, weil eine hinreichende Menge zweifelsfrei öffentlicher Daten inzwischen Einblicke ermöglicht, die bis ins Innere ganz fremder Menschen reichen. Wer die Angebote, die Amazon unaufgefordert sendet, kennt, weiß das längst.

Niemand konnte je einen Buchhändler daran hindern, sich die Einkäufe seiner Kunden zu merken; der Unterschied zu Amazon ist, dass man dort auch das Nicht-Gekaufte, nur Angesehene registriert und dass man vor allem nichts vergisst - man wird unentwegt an ältere Interessen und Arbeitsphasen, also an seine eigene Biographie erinnert.

"Wikipedia" kann durch seine Diskussionsfunktion zu einer Personalakte der Missgunst werden, aus der kein Blatt mehr zu tilgen ist, was immer im Artikel vorne steht. Und wer je etwas Verkehrtes oder Dummes gesagt oder geschrieben hat, das netzkundig wurde, wird diesen Makel nie mehr los, während es in Papierarchiven eine Art heilsames Vergessen gab, weil sich kaum jemand die Mühe machte, sie aufzusuchen. All das aber hat mit der Unterscheidung von privat und öffentlich bestenfalls am Rande zu tun.

Romanhaft und unheimlich

Dazu kommt bei Google, dass es eine einzige Firma ist, die inzwischen den übergroßen Teil personenbezogener Daten nicht nur zugänglich macht, sondern auch selbst generiert. Und das wird zum Problem auch dann, wenn all diese Daten zweifelsfrei öffentlich sind.

Der Privatstraßeneinspruch gegen Googles Streetview ist halb unbegründet, halb hilflos. Das Google-Problem besteht nicht in der Verletzung der Privatsphäre, sondern in der Monopolisierung des öffentlichen Raums. Die bloße Adresse wird zum Sesam-öffne-dich für eine Unmasse an Informationen.

Dass es daneben Binnenräume wie Facebook gibt, wo Millionen Menschen mehr oder weniger Intimes von sich immer weiteren Kreisen zugänglich machen, ist damit noch nicht einmal berührt. Hier herrscht wenigstens eine Art Symmetrie.

Wer dagegen bei Google das Lebensumfeld seiner verlorenen Liebe über den halben Erdball erkundet, nutzt eine Infrastruktur, die diesen Erdball zum Nahbereich des öffentlichen Raums gemacht hat. Das ist romanhaft und unheimlich.

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