Fußball im Internet:Laptop statt Fernseher

Eine halbe Million Menschen verfolgen Englands Fußball-WM-Qualifikationsspiel exklusiv im Internet. Sie nähren die Hoffnung, mit Netzinhalten Geld zu verdienen.

R. Honigstein

Am 9. September saß Philipp Grothe auf der VIP-Tribüne des Londoner Wembley-Stadions zwischen jubelnden Massen, und er sah Millionen verschwinden.

Die englische Fußball-Nationalmannschaft qualifizierte sich an diesem Abend mit einem 5:1-Sieg über Kroatien vorzeitig für die Weltmeisterschaft in Südafrika. Das nächste Auswärtsspiel in der Ukraine war aus Sicht der Briten sportlich irrelevant geworden, genau wie von Kentaro-Geschäftsführer Grothe, 43, befürchtet: Die in der Schweiz ansässige Sportrechteagentur hielt die Fernsehrechte für den Kick in Dnipropetrowsk und hatte keine akzeptablen Angebote von Sendern bekommen.

Nach Englands Erfolg vor einem Monat trudelten dann nur noch "lächerliche Offerten" (Grothe) in der britischen Kentaro-Zentrale am Chelsea Harbour ein; die TV-Stationen versuchten, das Match mit Hinweis auf die Branchenkrise für weniger als die Hälfte der handelsüblichen drei Millionen Pfund (3,2 Millionen Euro) zu kaufen.

Passable Übertragungsqualität

Kentaro lehnte ab, denn Grothe hatte eine bessere Idee: Er stellte England vs Ukraine exklusiv als kostenpflichtiges Programm ins Internet. Frühbucher konnten das Spiel am vergangenen Samstagnachmittag für 5 Pfund (5,35 Euro) sehen; wer sich erst kurzfristig vor der Übertragung entschloss, zahlte zwölf Pfund. (12,50 Euro).

Auf der Seite eines Buchmachers konnte man die Partie auch "umsonst" verfolgen, wenn man mindestens zehn Pfund in seinem Kundenkonto deponierte. Zudem zeigte eine Kinokette das Match. Einziger Nachteil: In den Auditorien war Bier tabu.

Ein Fanverband protestierte gegen die Maßnahme, Experten warnten vor technischen Problemen. Doch zum Erstaunen war das ambitionierte Experiment erfolgreich. Die Übertragungsqualität war passabel, Großbritanniens veraltetes Kabelnetzwerk hielt dem Datenstrom stand.

Beinahe 500.000 Zuschauer sahen laut Kentaro Englands 0:1-Niederlage live, das kommt in etwa 250.000 Kunden gleich. Beschwerden gab es nur vereinzelt; lediglich der ehemalige Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson erzürnte als Experte im Studio mit zähen Nicht-Analysen die Gemüter auf der Insel.

Per Laptop in den Pub übertragen

Insgesamt dürfte die aus Steuergründen in der Schweiz beheimatete Firma mit der Eigenvermarktung ungefähr jene drei Millionen Pfund Umsatz erzielt haben, die sie vergeblich von den Sendern gefordert hatte. Ein Rekordergebnis für ein Pay-per-View-Internet-Programm in Europa.

"Die meisten User haben sich Samstag für den Kauf entschieden, viele kamen noch in der Halbzeit dazu", sagte ein "positiv überraschter" Grothe am Montagmorgen dieser Woche. Um die Nachfrage zu maximieren, hatte der Jurist aus Niedersachsen den Verkauf der Zweitverwertungsrechte an die BBC erst nach Spielende verkünden lassen.

"Wir erleben gerade die Demokratisierung des Marktes", sagt Grothe, "der Endverbraucher legt den Wert des Produktes fest, nicht der Anbieter." Die Art des Übertragungsweges würde dabei immer unwichtiger. Schon am vergangenen Samstag hätten viele ihren Computer an den Fernseher angeschlossen; in Pubs wurde das Match von Laptops auf Leinwände projiziert. "Gerade für jüngere Leute ist Fernsehschauen auf dem Computer längst business as usual", sagt Grothe, "Millionen sehen hier beispielsweise Programme auf dem BBC iPlayer im Netz."

Weshalb auch Zeitungen am Experiment teilnahmen

Mit den Reichweiten des frei empfangbaren Fernsehens kann der digitale Vertriebsweg noch nicht konkurrieren, wohl aber mit den Bezahlsendern. "Die Zahlen nähern sich an", sagt Grothe, der in den neunziger Jahren bei der Bertelsmann-Firma UFA (heute Sportfive) sein Handwerk gelernt hat. Das noch vom erst neulich pleite gegangenen Pay-TV-Sender Setanta gezeigte England-Auswärtsspiel gegen Kasachstan hätten im Juni 700 000 Zuschauer gesehen.

Kentaros Alleingang am Samstag, von vielen Vereinen und den großen Verbänden genau beobachtet, bestätigte abermals die Ausnahmestellung des Fußballs. Grothe spricht von einem "vergleichsweise preiswerten Produkt mit Anti-Flop-Garantie". Mit der Verbesserung der technischen Mittel rückt auch das endgame näher; jene Vision, die Investoren aus der ganzen Welt in die englische Premier League lockt: der direkte, dezentralisierte Verkauf von Live-Spielen an hunderte Millionen von Fans.

Fußball-Streaming auch auf Zeitungsseiten

Auch die aktuell wieder hitzig geführte Debatte um bezahlte Zeitungsinhalte im Internet erfährt durch das Ukraine-Match neue Impulse. Neun nationale britische Blätter, unter anderem die Times, die Sun und der Daily Telegraph, zeigten die Partie am Sonnabend in Kooperation mit der auf Fußball-Streaming im Netz spezialisierten Firma Perform live auf ihren Homepages - und wurden dafür von Kentaro mit geschätzten 20 bis 30 Prozent am Umsatz beteiligt. "Die haben alle gutes Geld gemacht, da sind hübsche Summen geflossen", sagt Grothe.

Mit bewegten Fußballbildern machen die großen britischen Blätter übrigens nicht zum ersten Mal gute Erfahrungen. Seit zwei Jahren zeigt ein integrierter Video-Player von Perform auf den Online-Portalen der Zeitungen Tore der Premier League.

Die Werbung liefert die Firma gleich mit, die Verlage partizipieren an den Einnahmen. Die Daily Mail soll so dem Vernehmen nach schon mehrere hunderttausend Euro im Jahr umsetzen. "Es gibt sonst nicht viel paid content, der funktioniert", sagt Grothe.

Konkurrenz für werbefinanzierte TV-Sender

Zeitungen werden sich zu echten Medienportalen entwickeln müssen, meint der Grothe. Er sieht Chancen für Live-Übertragungen von weniger profilierten Sportarten und der engen Einrahmung der Fernsehfenster durch redaktionelle Beiträge. Sehr bald kann sich der Nutzer womöglich aussuchen, ob er statt des Fernsehreporters lieber den Live-Kommentaren der Boulevardschreiber oder der Fußball-Feuilletonisten zuhört.

In der Zwischenzeit werden sich besonders die ausschließlich werbefinanzierten Fernsehsender darauf einstellen müssen, dass ihre bisher machtvolle Stellung als Abnehmer der kostspieligen Fußballrechte durch viele neue Geschäftsmodelle im Internet gebrochen wird. "Der eine oder andere dürfte am Samstag ins Grübeln gekommen sein", sagt Grothe.

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