Fotodienste Vine und Snapchat:Digitale Omnipräsenz und Selbstzerstörung

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Mit Snapchat und Vine stehen zwei Fotodienste bereit, unseren Umgang mit der digitalen Realität fundamental zu verändern. Vine verdichtet Erlebnisse auf sechs Sekunden, während Snapchat dem aufgenommen Moment zum ersten Mal seine Trivialität zugesteht.

Von Michael Moorstedt

In regelmäßigen Abständen werden dem Internet-Nutzer neue Websites und Apps präsentiert, von denen es heißt, sie würden seinen Umgang mit der digitalen Realität fundamental verändern. In den letzten Wochen geisterten gleich zwei solcher Dienste durch das Netz. Diesmal im Fokus der vermeintlichen Revolution: unser Umgang mit (Bewegt-)Bildern.

Da wäre zum einen Vine. Eine App des Kurznachrichtendienstes Twitter, die es den Nutzern erlaubt, sechs Sekunden lange Videos zu posten, die sich in Endlosschleife wiederholen. Es ist also ein weiterer Schritt hin zur maximalen Verknappung von Informationen und gleichzeitig zu ihrer maximalen Verbreitung. Die Begrenzung auf 140 Zeichen hat schließlich auch nicht dazu geführt, dass weniger Informationen über Twitter verbreitet werden. Genau wie schon animierte GIFs lässt Vine den Moment zusammenschnurren, es verdichtet ihn und spielt ihn gleichzeitig unendlich oft ab. Anders ausgedrückt: Man kann mit sechs Sekunden Videos nicht mehr sagen, als mit 140 Zeichen, aber man kann mehr zeigen.

Snapchat, das zweite Stück Software, um das es geht, soll genau das Gegenteil von Vine bewirken. Statt um ihre Omnipräsenz geht es um das Verschwinden von Bildern, die Kernfunktion von Snapchat ist ein Selbstzerstörungsmechanismus für digitale Daten. Wer ein Bild mit der App versendet, kann bestimmen, wie lange die Datei für den Empfänger sichtbar ist. Der Timer reicht von einer bis zu zehn Sekunden, dann löscht sich das Bild von selbst.

Nicht nur schlecht ausgeleuchtete Selbstporträts

Dies sei eine Funktion, so war man sich in Early-Adopter-Kreisen sicher, die vor allem bei Jugendlichen gut ankommen wird, denn die würden ihre Smartphone ja vor allem dazu benutzen, um sich gegenseitig in größtmöglicher Naivität Nacktbilder zuzusenden. Mittlerweile werden mehr als 50 Millionen Bilder pro Tag über die Server des Unternehmens gesendet und wenn man die kurzfristige Aufregung über die Verderbtheit der Jugend einmal beiseite lässt, ist es schwer zu glauben, dass darunter nur schlecht ausgeleuchtete Selbstporträts zu finden sind.

Die Bedeutung von Snapchat ist eine gänzlich andere. Im sozialen Netz, in dem die Verbindung mit anderen Menschen immer auch bedeutet, von eben diesen überwacht zu werden, wird die Flüchtigkeit von Informationen auf einmal wieder zu einem hehren Gut. Doch hier geht es nicht nur um Probleme von Privatsphäre und Identität, sondern um Probleme der Speicherkapazität.

Jeden Tag werden mehr als 250 Millionen Fotos allein auf Facebook hochgeladen. Und aus Gründen, die aus einer Zeit stammen, in der die Ressourcen der Fotografie noch begrenzt waren, tut man sich noch immer schwer, die gespeicherten Bilder wieder zu löschen, was schließlich zu einem unübersehbaren Müllhaufen aus Daten führt. Mit Snapchat gesteht der Mensch, der auf den Auslöser drückt, dem aufgenommen Moment zum ersten Mal seine Trivialität zu. Seine Flüchtigkeit wird nur ein bisschen in die Länge gezogen.

© SZ vom 18.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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