Falsche Genanalyse von US-Firma:Sorry, Fehldiagnose

Falsche Genanalyse von US-Firma: Forschte nach: Lukas Hartmann

Forschte nach: Lukas Hartmann

(Foto: Privat)

Algorithmen attestieren Lukas Hartmann, dass er schon bald todkrank sein könnte. Doch der Berliner ist misstrauisch und forscht nach. Dabei stößt er auf einen gravierenden Fehler im Algorithmus der Genanalyse-Firma aus dem Silicon Valley.

Von Varinia Bernau

Lukas Hartmann, 30, ist einer, der jeden Stein umdreht. Einer, der wissen will, was wirklich hinter einer Sache steckt. In einer Welt zu leben, in der bald mehr Daten Jahr für Jahr durchs Netz schwirren, als es Sandkörner gibt, macht ihm keine Angst. Denn er weiß, dass er sich darin zurechtfindet. Vermutlich erklärt das, warum er gelassen wirkt, wenn er seine Geschichte erzählt. Es ist eine Geschichte, die andere schaudern lässt.

In der Grundschule schon programmiert Hartmann, später gründet er zwei Internet-Start-ups. Futuristische Dinge faszinieren ihn. Und so macht ihn auch das Angebot des US-Unternehmens 23andme neugierig: Jedermann kann dort seinen genetischen Code analysieren lassen. Im November 2010 meldet sich Hartmann an. Seine Speichelprobe wird mit einem Expressdienst abgeholt und in ein Labor gebracht. Ein paar Wochen später erhält er ein Passwort und klickt sich durch die Internetseiten.

Er lässt sich zeigen, welche Medikamente er nicht verträgt, tauscht Nachrichten mit entfernten Verwandten aus. Er erfährt, zu welchen Anteilen er von Neandertalern abstammt. Manchmal taucht unter seinen Vorfahren auch eine Volksgruppe mit einem seltsamen Namen auf, die beim nächsten Update wieder verschwunden ist. Und nachdem er liest, dass er ein höheres Risiko hat, einen Herzinfarkt zu erleiden, isst er eineinhalb Jahre lang kein Rind- und kein Schweinefleisch mehr. Kleinigkeiten sind das. Kuriositäten.

Plötzlich kommt der Erbkrankheitsreport per E-Mail

Doch dann, vor etwas über einem Jahr, bekommt Hartmann eine E-Mail. Es liege ein Erbkrankheitenreport vor. Als er sich einloggt, ploppt eine Warnung auf: Ob er das wirklich wissen wolle? Er will, klickt weiter - und liest, dass seine DNA über zwei Mutationen verfüge. Er liest, dass Menschen mit zwei von diesen Mutationen typischerweise an Gliedergürteldystrophie erkrankt seien. Und dass Menschen mit dieser Krankheit, einer Art Muskelschwund, irgendwann nicht mehr laufen könnten. Daneben ist ein Bild von einem lächelnden Physiotherapeuten zu sehen, der einen ebenfalls lächelnden Patienten dehnt.

Hartmann hat noch nie von dieser Krankheit gehört. Er schaut bei Wikipedia nach. Dort steht, dass die Krankheit häufig tödlich endet. Jemand anderes wäre vermutlich zum Arzt gegangen. Hartmann geht ins Internet. Er verbringt ganze Nächte damit, medizinische Fachartikel zu lesen und Datenbanken zu durchstöbern; bei Youtube sieht er sich an, wie die DNA in Laboren gescannt wird. Er lädt seine Rohdaten bei 23andme runter und besorgt sich eine Genanalyse-Software, die diese Daten versteht, aber ihm keine noch so unangenehme Erkenntnis vorenthält. "Jemand hatte bei mir einen Bug gefunden, und ich wollte ihn reproduzieren, koste es, was es wolle."

Nach ein paar Tagen hat Hartmann verstanden, dass 23andme einen Fehler gemacht hatte. Das Erbmaterial der Menschen ist in einer Doppelhelix verschlüsselt, von jedem Gen gibt es eine Kopie oder, wie Hartmann das sagt, "für jede Funktion gibt es ein Backup". Bei den Patienten in einer Studie zur Gliedergürteldystrophie, die Hartmann im Netz entdeckt, sind beide Kopien auf dieselbe Art defekt. Er selbst, das weiß er aus den Rohdaten seiner DNA, hat zwar auch zwei Mutationen. Aber nicht in dem gleichen Gen, sondern in zwei unterschiedlichen. Der Fehler liegt nicht in seinem Gencode, sondern in dem Algorithmus, der diesen analysiert. Hartmann schreibt an den Support von 23andme und erhält eine knappe Antwort: Das Unternehmen bestätigt, dass da ein Fehler unterlaufen sei, entschuldigt sich - und aktualisiert sein Profil. Das war's. "Natürlich hätte ich mich mehr gefreut, wenn sie mir ein T-Shirt geschickt hätten", sagt Hartmann und grinst.

Hartmann würde gerne das Gencode-Copyright behalten

Im vergangenen November haben die amerikanischen Behörden 23andme den weiteren Betrieb untersagt - auch weil die Kunden schlecht betreut wurden. Hartmann ist sich dessen bewusst, dass nicht jeder eine solche Fehldiagnose so leicht nehmen würde, wie er es getan hat. Und er macht sich auch keine Illusionen darüber, dass es gefährlich sein könnte, wenn ein Unternehmen die Hoheit über solch sensible Daten hat. 23andme wurde von Anne Wojcicki gegründet, die lange Zeit mit dem Google-Gründer Sergej Brin zusammen war. Im Silicon Valley kennt man einander eben. Und man macht gemeinsam Geschäfte.

Falsche Genanalyse von US-Firma: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Und dennoch bereut es Hartmann nicht, sein Erbmaterial in fremde Hände gegeben zu haben. Dass 23andme es falsch gemacht hat, bedeutet für ihn nicht, dass es andere nicht besser machen werden. Er glaubt daran, dass, wenn mehr Menschen ihren Gencode zur Verfügung stellen würden, mehr Menschen geholfen werden könnte. Nur so würde die empirische Grundlage für die Forschung an Erbkrankheiten größer - und damit auch die Möglichkeit, Risiken rechtzeitig abzuschätzen. Dass Hartmann den Fehler im Algorithmus aufspüren konnte, liegt schließlich auch daran, dass alles im Netz für alle verfügbar ist. "Vor ein paar Jahren hätte ich dazu noch in ziemlich viele Bibliotheken gehen müssen", sagt er.

Wie schützenswert ist also die DNA? Und wer hat, wenn man diese persönlichen Daten freigibt, das Urheberrecht darauf? Wer darf entscheiden, was mit dem Wissen über den Gencode gemacht wird? Hartmann zögert. Dann fällt ihm ein Science-Fiction-Film ein, in dem Popstars geklont werden und man das synthetische Fleisch als Fanartikel verscherbelt. Wenn er daran denkt, wäre es ihm lieber, er würde das Copyright auf seinen Gencode halten. "Andererseits: Wenn jemand ein HIV-resistentes Gen hat, wäre es dann nicht besser, es allen zugänglich zu machen?"

Verpflichten könne man dazu niemanden, betont Hartmann. Und schon gar nicht dürfe das Wissen über Erbmaterial zu einem Firmengeheimnis werden. Ob es gelingt, dieses Wissen offenzulegen und zum Wohle aller einzusetzen, sei letztlich eine 50-50-Wette. "Ich bin da eher Optimist."

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