EU-Treffen in Estland:Europas Mächtige im digitalen Wunderland

EU-Treffen in Estland: Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid (r.) begrüßt Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron in Tallinn.

Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid (r.) begrüßt Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron in Tallinn.

(Foto: AFP)

Die Esten sind Gastgeber des informellen EU-Gipfels - und technologische Vorbilder. Sie wollen dem Kontinent die "fünfte Freiheit" schenken: die Freiheit der Daten.

Von Daniel Brössler, Tallinn

Der Ministerpräsident verspätet sich. Er komme, sagt Jüri Ratas, gerade von der Sitzung des E-Kabinetts. Man habe Infrastruktur-Vorhaben diskutiert. Der Regierungschef vertieft das nicht weiter, aber die beiläufige Botschaft kommt auch so an: Immer weiter schreitet das kleine Estland, dessen 1,3 Millionen Bürger schon heute in einem fast vollkommen durchdigitalisierten Staat leben, technologisch voran. An diesem Freitag versammeln sich die Staats- und Regierungschefs in Tallinn, um sich einer Zukunft zu nähern, in der die Esten längst angekommen sind.

Alle Esten verfügen über einen elektronische Identitätskarte, die der Schlüssel ist für jede Lebenslage. Sie macht praktisch alle Behördengänge unnötig, ermöglicht das Abwickeln von Bankgeschäften, kann Versicherungskarte sein, Krankenakte wie auch Fahrausweis. Eine Steuererklärung ist in Estland in drei Minuten gemacht. Rückzahlungen landen angeblich nach fünf Minuten auf dem Konto. "Wir sind stolz auf unsere bisherigen Erfolge und teilen gerne unsere Geschichte", sagt Ratas.

Die Geschichte, so wie Kersti Kaljulaid sie erzählt, ist aus der Not geboren. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit nach dem Ende der Sowjetunion habe sich das arme Estland einen großen Staatsapparat gar nicht leisten können. "Wir mussten nach wirtschaftlicheren Wegen suchen, unsere Bürger mit Dienstleistungen zu versorgen", sagt die Staatspräsidentin. Die 47-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin empfängt in ihrem Amtssitz, und wäre da nicht die gediegene Atmosphäre dieses lachsfarbenen Palais, würde Kaljulaid auch durchgehen als CEO eines erfolgreichen Internet-Konzerns. Leidenschaftlich schildert sie die Vorzüge des digitalen Staates. Die Digitalisierung habe die estnische Gesellschaft umgekrempelt und die Einstellung der Menschen "vollständig verändert". Schlange stehen sei in Estland nur noch eine böse Erinnerung aus sowjetischer Zeit. Niemand sei mehr bereit, Stunden in einer Behörde zuzubringen, etwa um einen neuen Ausweis zu beantragen. "Das gäbe einen Aufstand", sagt sie.

Tatsächlich ist die digitale Kluft zwischen Estland und den meisten anderen EU-Staaten in den vergangen Jahren immer größer geworden. In der Vorbereitung des Digital-Gipfels haben die Esten Zahlen zusammengetragen, die aus ihrer Sicht für sich sprechen. So könnten nur ein Fünftel der Unternehmen in der EU als hochgradig digitalisiert eingestuft werden. 45 Prozent der Bevölkerung seien nicht in der Lage, sich ausreichend im Internet zu bewegen. Im internationalen Vergleich falle Europa zurück. Ein digitaler Binnenmarkt in der EU könne Hunderttausende neue Jobs schaffen. In noch größerem Maße gelte das für den Ausbau der Infrastruktur, etwa 5-G-Mobilfunknetze und Hochleistungsrechner.

Es soll um die "fünfte Freiheit" gehen: den unbeschränkten Fluss all der vielen Daten

Beim Gipfel soll es um die digitale EU des Jahres 2025 und um das gehen, was die Esten die "fünfte Freiheit" nennen. Die EU kennt bisher vier Grundfreiheiten. Sie garantieren im Binnenmarkt den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Frei fließen sollen aber auch die Daten. Er hoffe, sagt Ratas, "dass die Frage nicht mehr ist, warum wir den freien Fluss der Daten brauchen, sondern wann das realistisch ist". Digitale Dienstleistungen, wie es sie in Estland gebe, müssten in der EU doch auch grenzüberschreitend möglich sein. "Das muss der nächste Schritt sein", fordert er. Es müsse auch dringend darüber gesprochen werden, welche digitale Infrastruktur die EU benötige.

In einem gemeinsamen Papier haben auch Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ein paar Themen für den Gipfel angemeldet. Ganz oben stehen da aber Steuerfragen. So beklagen die vier, dass die großen Internetfirmen ihre Gewinne nicht dort versteuern, wo sie ihre Profite machen. Auch müsse die Mehrwertsteuer dort entrichtet werden, wo eine Ware oder Dienstleistung ankomme.

Für das Treffen haben die Esten allerdings eher andere Fragen vorbereitet, zum Teil solche, die sie für sich selber bereits beantwortet haben: "Wie bringen wir den öffentlichen Sektor ins digitale Zeitalter?", lautet eine. "Wie kann Cyber-Sicherheit Vertrauen schaffen für ein offenes Internet und eine offene Gesellschaft?"

Grundsätzliche Bedenken sind den Esten fremd. Die Bevölkerung vertraue darauf, dass Sicherheitslücken, wie sie zuletzt bei der elektronischen ID-Karte entdeckt wurden, geschlossen würden, betont Präsidentin Kaljulaid. Überdies schaffe totale Transparenz, wer wann auf welche Daten zugreife, Vertrauen. Ein "ausgefeiltes System" mache den estnischen Bürger zum alleinigen Besitzer seiner Daten. Auch Furcht vor dem möglichen Missbrauch durch totalitäre Regime hält Kaljulaid für unbegründet. Um Zehntausende Esten nach Sibirien zu deportieren hätten die Sowjets schließlich auch kein Internet gebraucht. Analoge Datenbanken hätten völlig ausgereicht.

Dass den Esten gelegentlich ein schon fast sektenhafter Eifer beim Werben für die digitale Welt nachgesagt wird, ist der Präsidentin dabei bewusst. "Wir predigen nicht", versichert sie. Man sage "den anderen nicht, was sie tun sollen". Eher sei es so, dass es einen "Bedarf" gebe, von den Esten zu hören, was sie gemacht hätten.

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