Erschossene US-Journalisten:Todesschreie in der Timeline

Lesezeit: 2 min

Das Twitter-Profil von Vester Lee Flanagan II, dem Schützen von Virginia. In sozialen Medien und im Fernsehen trat er unter dem Namen Bryce Williams auf. (Foto: AP)
  • Am Mittwoch wurden eine Reporterin und ein Kameramann im US-Bundesstaat Virginia erschossen. Der Täter filmte die Tat und veröffentlichte das Video auf Facebook und Twitter.
  • Weil Videos in den sozialen Netzwerken automatisch abgespielt werden, sahen Tausende Nutzer die Tat ohne Einwilligung, Vorwarnung oder Kontext.
  • Mit Auto-Play sollen die Reichweiten von Werbevideos erhöht werden. Doch die Funktion gefährdet zugleich die Nutzer.

Von Sara Weber

Hundewelpen, Nachrichtenlinks, lustige GIFs, Fotos vom Mittagessen. Und dazwischen: das Video zweier Morde, gefilmt vom Täter selbst, automatisch gestartet, ohne Vorwarnung oder Kontext. So sah gestern die Timeline vieler Nutzer auf Facebook und Twitter aus.

Facebook hat Auto-Play, also das automatische Abspielen von Videos in der Timeline, Ende 2013 eingeführt, Twitter vor einigen Monaten. Scrollt man durch den Newsfeed, werden Videos automatisch gestartet. Ohne Ton zwar, aber oft reichen die Bilder, um sich die Töne vorstellen zu können. Und wer aus Versehen mit der Maus oder dem Finger auf das Video klickt, der hört auch, was passiert.

Möglichst große Schockwirkung

So wie am Mittwoch, als eine Reporterin und ihr Kameramann im US-Bundesstaat Virginia vor laufender Kamera erschossen wurden. Der Täter filmte die Tat und stellte das Video auf Facebook und Twitter online. Bis sein Account in beiden Netzwerken gesperrt wurde, dauerte es Minuten. Kopien des Videos auf anderen Accounts kursierten deutlich länger.

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Gewaltverbrecher, Amokläufer und Terroristen wissen, wie sie Facebook und Twitter mit größtmöglicher Schockwirkung einsetzen können. Und was könnte mehr schockieren als ein gewalttätiges Video, das einfach so zwischen Nachrichten von Freunden abläuft? Das wusste der Täter von Virginia, und das weiß auch die Terrorgruppe Islamischer Staat, die Videos von Geiselhinrichtungen oder der Zerstörung von Städten und Kulturgütern über diverse Accounts in sozialen Medien verbreitet - und dabei von Auto-Play profitiert.

Es geht ums Geld

Das automatische Abspielen von Videos soll ein besseres Nutzererlebnis schaffen, sagen Facebook und Twitter. In Wahrheit ist diese Funktion ein Entgegenkommen für die Werbekunden, die so mehr Nutzer mit ihren Videos erreichen können. Früher konnten die Nutzer noch selbst entscheiden, ob sie ein Video sehen wollen. Jetzt wird ihnen diese Entscheidung von der Technik abgenommen: Die Videos starten, automatisch, ungefiltert. So werden Millionen von Menschen mit Gewalttaten konfrontiert, die sie sich freiwillig wohl nicht angesehen hätten.

Zwar kann die Auto-Play-Funktion in den Einstellungen deaktiviert werden, doch nicht jeder Nutzer beschäftigt sich ausgiebig damit, wie Facebook und Twitter funktionieren. Und wenn es nach den sozialen Netzwerken geht, ist das auch ganz gut so - schließlich geht es um viel Geld. Im zweiten Quartal 2015 hat Facebook 3,8 Milliarden US-Dollar mit Werbung eingenommen, knapp 95 Prozent des gesamten Umsatzes. Auch Twitter macht 90 Prozent seines Umsatzes mit Werbung. Und wenn die Einnahmen einknicken - etwa weil weniger Menschen die Videos von Werbekunden sehen - bricht auch der Aktienkurs ein.

Dabei ignorieren Facebook und Twitter, dass der Großteil der Inhalte nicht von zahlenden Kunden kommt, sondern von den Nutzern. Jeder darf Bilder und Videos in sozialen Netzwerken hochladen, ohne vorherige Prüfung. Die wäre bei der schieren Masse an Inhalten auch gar nicht möglich. Denn einen Algorithmus, der zwischen Werbevideos, Zombie-Komödie und der Dokumentation einer Hinrichtung unterscheiden und Inhalte danach aussieben kann, gibt es nicht.

Löschen nur auf Ansage

Videos können höchstens im Nachhinein gelöscht werden. Doch das passiert in der Regel erst, wenn Nutzer die Videos melden - nachdem sie sie bereits gesehen haben. Dieses System kann man kritisieren, aber Facebook und Twitter basieren auf den Inhalten ihrer Nutzer und solange sie dieses Grundprinzip nicht komplett ändern wollen, werden Dinge gepostet werden, die nicht jeder sehen möchte.

Allerdings könnten die sozialen Netzwerke Maßnahmen ergreifen, um es jenen, die Propaganda verteilen möchten, schwerer zu machen - und ihre Nutzer zu schützen. Ein Kompromiss könnte sein, die Auto-Play-Funktion nur auf Wunsch freizuschalten, statt sie zur Grundeinstellung zu machen. Oder nur geprüfte Videos von Werbekunden automatisch zu starten. Doch dass das passiert, ist unwahrscheinlich. Den Nutzern bleibt deshalb nur eines: Auto-Play deaktivieren. Die Anleitung dafür wurde übrigens gestern sehr oft über Facebook und Twitter geteilt - anstelle des Tätervideos.

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