DLD-Konferenz:Wie Big Data den Blick auf den Körper verändert

Fitness-Armbänder von Fitbit

Ein Model führt in Las Vegas Fitness-Armbänder vor: die Fülle an digitalen Messdaten erhöht den Druck auf den Einzelnen, sich ständig zu verbessern.

(Foto: dpa)
  • Die "DLD-Summer"-Digital-Konferenz beschäftigte sich mit den Themen Gesundheit und Lifestyle.
  • Dank digitaler Daten können etwa Medikamente individuell zugeschnitten werden - sie erhöhen aber auch den Druck auf den Einzelnen, für seine Gesundheit letztendlich selbst verantwortlich zu sein.
  • Allerdings: Schicksalsschläge des Lebens lassen sich durch Datenauswertung nicht beseitigen.

Von Alexandra Borchardt

Wenn die ehemalige Ski-Athletin Maria Höfl-Riesch über das Training in ihrer aktiven Zeit erzählt, hat das zunächst nichts mit Digitalisierung zu tun, im Grunde aber doch. Früher habe das gesamte Team das gleiche Programm absolvieren müssen, im Sommer seien das schon mal fünf, sechs Stunden Radtour gewesen - für manch einen zu viel. Heute würden bei jedem Sportler gleich morgens alle wesentlichen Werte gemessen und das Programm an die Tagesform angepasst, erzählte Höfl-Riesch auf der Digital-Konferenz "DLD Summer" des Burda-Verlags in dieser Woche in München. Daten, übertragen aus der Kleidung, helfen Athleten künftig zusätzlich dabei, ihre Leistungen zu maximieren.

Der Einzelne steht im Zentrum. Das gilt nicht nur im Spitzensport und in der Medizin, wie auf der Tagung deutlich wurde, die sich der Themen Gesundheit und Lifestyle annahm. Die Individualisierung ist überhaupt das Leitmotiv des digitalen Zeitalters - man könnte auch sagen, sie ist seine Ideologie. Und die ist zutiefst amerikanisch. Was Amerika mit seinen Soldaten selten, mit Coca Cola und Rockmusik unzureichend geschafft hat, gelingt jetzt womöglich seinen Internetkonzernen: den Glauben an den Einzelnen, an Lösungen und Optimierung weltweit zu verbreiten.

Die Grundlage dafür sind Daten. Jeder Mensch, jede Maschine wird über das Netz und Sensoren rund um die Uhr Massen davon produzieren, und es gibt ausreichend Computerkapazitäten, um sie weiterzuverarbeiten. Das wird maßgeschneiderte Lösungen in allen Lebensbereichen ermöglichen, wo heute noch ein Standard gilt: Schuhe werden auf Fuß und Körperbau abgestimmt sein, Lernprogramme auf individuelle Fähigkeiten Rücksicht nehmen, die Therapie bei Krebs oder Depression im Zusammenspiel zwischen Gentechnik und Daten auf Besonderheiten des Patienten zugeschnitten sein. Vieles ist denkbar und über Online-Anwendungen steuerbar, die Möglichkeiten des 3-D-Drucks werden zudem etliches davon produzierbar machen.

Allein in den Bereichen Gesundheit, Medizin und Fitness gebe es bereits 400 000 Apps, hieß es beim DLD. "Die Daten rücken unseren Körpern und Seelen näher", sagte Geschäftsführerin Steffi Czerny. Dies werde den Blick auf unsere Körper verändern. Es ist ein Blick, der zunehmend kritischer werden dürfte. Denn wer genau hinschaut, sieht vieles, was zu verbessern wäre - und andere sehen es auch.

Die DLD-Konferenzreihe ist nun eigens dazu geschaffen, die Digitalisierung zu feiern. Internet-Millionäre und kluge Köpfe reisen gerne an, um Werbung für ihre Produkte und sich selbst zu machen, Netz-Kritik ist selten. Und natürlich kann einem die Individualisierung zunächst als großer Gewinn für die Menschheit erscheinen. Sie geht auf die Bedürfnisse des Einzelnen ein und ist auch aus ökologischen Gründen wünschenswert. So dürfte es weniger Verschwendung geben, wenn gezielt auf einen bestimmten Bedarf hin produziert wird. Mobilität wird zum Beispiel eher bedeuten, dass Fahrzeuge auf Abruf gebucht werden, anstatt halb leer durch die Gegend zu fahren oder ungenutzt herumzustehen. Produkte werden sich dezentral mit dem exakt nötigen Material- und Energieeinsatz herstellen lassen. Statt wie eine Chemotherapie gesunde Zellen zu vergiften, werden neue Medikamente am Kern der Krankheit ansetzen. Mit weniger Material kann vieles billiger und damit massentauglich werden.

Eine zutiefst amerikanische Überzeugung

So jedenfalls die Hoffnung. Personalisierte, also auf das spezielle Leiden eines einzelnen Menschen zugeschnittene Medizin sei viel günstiger als die Entwicklung von Blockbuster-Arzneien, sagte zum Beispiel Florian Holsboer, der sich auf die individualisierte Behandlung von Depressionen spezialisiert hat. Die teuren klinischen Studien für Massen-Medikamente fielen weg, damit auch umstrittene Tierversuche. Das klingt nach einer in jeder Hinsicht heileren Welt.

Aber diese Welt hat auch ihre Tücken. Die Verantwortung, ja womöglich die Pflicht dafür, sein Leben zu perfektionieren, geht auf den Einzelnen über. Der Druck, das auch zu tun, kommt von jenen, die die Maßstäbe setzen. Arbeitgeber werden die Produktivität eines jeden Beschäftigten messen und bewerten können, Versicherungen das Verhalten und die Prädisposition ihrer Kunden studieren und entsprechend belohnen oder sanktionieren. Das Kollektiv, in dem der Einzelne in den Hintergrund tritt, die Solidargemeinschaft, die den Schwächeren mitträgt - zum Beispiel im Gesundheitssystem - , droht an Bedeutung zu verlieren.

Viele Institutionen spüren diesen Trend. Gewerkschaften kämpfen damit, dass Arbeitnehmer für ihre persönlichen Interessen eintreten, sich aber nicht von einer Massenorganisation vertreten lassen wollen. Parteien leiden darunter, dass sich viele Bürger für Themen mobilisieren lassen, aber kein Interesse an Parteidisziplin haben. Die Individualisierung erfasst ganze Branchen: Leser wollen einzelne Artikel lesen, anstatt komplette Zeitungen zu kaufen, Konsumenten einen Song hören, anstatt ein Album mitzufinanzieren.

Wenn jeder nur das bezahlt, was er braucht oder mag, ist das für den Einzelnen ökonomisch rational und effizient. Der Gesellschaft kann es schaden. Es ist zum Beispiel eine zutiefst amerikanische Überzeugung, so wenig wie möglich Steuern und dafür lieber direkt für Dienstleistungen zu zahlen, die man beansprucht, zum Beispiel im Schul- oder Gesundheitswesen. Darunter leidet die öffentliche Infrastruktur. Nimmt die Bedeutung des Einzelnen zu, nimmt die der Politik ab.

Nicht jeder Mensch ist dem gewachsen. Schicksalsschläge, Naturkatastrophen, Sterblichkeit und das normale Chaos des Lebens, das letztlich aus Zufällen besteht, lassen sich durch Rechenleistungen und Apps nicht wegmanagen - wenngleich man sie damit besser managen kann. Viele Menschen fühlen sich überfordert von der Jagd nach dem perfekten Leben. Bewegungen mit striktem Regelkorsett bekommen oft besonders starken Zulauf, wenn die Individualisierung wächst.

Die digitale Welt suggeriert, dass fast alles möglich ist. Ein gutes und erfülltes Leben zu finden, bedeutet aber auch, sich auch mit dem zu arrangieren, was unmöglich ist.

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