Digitalisierung:Die zwiespältige Revolution

Die Digitalisierung unserer Lebenswelt vollzieht sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Doch fördert sie das Wohl der Menschheit?

Patrick Illinger

43 Jahre sind vergangen, seit Charles Kao sich überlegt hat, wie man spaghettiförmige Glasröhrchen verbessern kann, so dass sie Lichtsignale Tausende Kilometer weit transportieren. Fast genauso lange ist es her, dass Willard Boyle und George Smith darüber nachdachten, wie man mit winzigen Halbleiterchips Bilder aufnehmen und in digitale Daten verwandeln kann.

Digitalisierung: Der Chip, die DNA unserer heutigen Lebenswelt

Der Chip, die DNA unserer heutigen Lebenswelt

(Foto: Foto: Wonderlane, Flickr, CC Share Alike)

Beides wurde in diesem Jahr mit dem Physik-Nobelpreis gewürdigt. In Anbetracht der im Durchschnitt 80 Jahre alten Laureaten, könnte man dem Nobelpreis-Komitee wieder einmal vorhalten, es blicke arg weit in die Vergangenheit. Doch vielleicht liegt der Verzug daran, dass den Entdeckungen von Kao und Co. ein Zwiespalt innewohnt.

Keine Frage, die drei Physiker haben einen gewaltigen technischen Umbruch ausgelöst, wie er in den 40.000 Jahren der menschlichen Kulturgeschichte einmalig ist. Ihre Erfindungen waren der Anstoß für eine neue Epoche, in der die Menschheit kollektiv beschlossen hat, die eigene Lebenswelt komplett zu digitalisieren.

Ob dieser Umbruch das Wohl der Menschheit fördert, so wie es Alfred Nobel zur Bedingung für den von ihm gestifteten Preis gemacht hat, ist allerdings auch nach 40 Jahren noch fraglich.

Die Auflösung der analogen Welt

Aus Kaos ersten Glasfasern sind jedenfalls Milliarden Kilometer Lichtleiter geworden, die heute den Erdball umspannen wie Schnüre eines Wollknäuels. Aus Boyles und Smiths Halbleiterplättchen sind die allgegenwärtigen Megapixel-Kameras entstanden. Pixel-Chips und Glasfasern, das sind die Produktions- und Distributionsmittel der Kultur des 21. Jahrhunderts.

Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung ist atemraubend. Als man in den 1980er Jahren das Milliarden Dollar teure Hubble-Teleskop konzipierte, versah man es mit damals sensationellen 0,64-Megapixel-Fotochips. Ein Bauteil, das heute Elektronik-Discounter lächerlich machen würde.

Um die Apollo-Astronauten auf den Mond zu dirigieren, entwarf die Nasa Datenleitungen, die 2400 Bit pro Sekunde übertrugen. Heute strömen Daten mit tausendfachem Tempo in jedes Wohnzimmer.

Die seit Jahrtausenden gewohnte analoge Welt, in der mediale Inhalte untrennbar mit einem Träger verbunden waren, ob Stein, Papier, Vinyl oder Zelluloid, hat sich mit erschreckender Geschwindigkeit aufgelöst.

Ein neues Werkzeug für den Homo sapiens

Erstaunlicher noch als das Tempo dieses technischen Umschwungs ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschheit ihn klaglos akzeptiert, ja scheinbar herbeigesehnt hat.

Das betrifft nicht nur die vielzitierte Internet-Generation, sondern auch jene, die noch wissen, wie sich ein Telefon mit Wählscheibe anfühlte und eine Schreibmaschine klang.

Es ist, als hätte die Physik dem Homo sapiens plötzlich ein neues Werkzeug beschert, das er so gut brauchen kann wie das Feuer, das Rad oder den Verbrennungsmotor.

Die Gefahren des beschleunigten Alltags

Dabei ist die Digitalisierung, anders als Schlüsseltechnologien der vergangenen Jahrhunderte, nicht auf einen Zweck beschränkt, etwa um von hier nach dort zu gelangen, wie mit dem Auto.

Die Digitalisierung ist wie ein Äther, der in sämtliche Winkel der Zivilisation vordringt, in Telefone, Waschmaschinen, Backöfen, Ladenkassen, Fahrstühle und Spielzeug. Schon bei Grundschülern beliebte Daddelmaschinen können Fotos schießen und haben Internet-Anschlüsse.

Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung übertrifft die menschliche Anpassungsfähigkeit bei weitem. Davon zeugt nicht nur der Irrsinn, von dem die Webforen und Facebooks dieser Welt überquellen. Die Verunsicherung trifft auch komplette Industriezweige, Filmproduzenten, Musikhäuser und Verlage, die ratlos zusehen, wie sich ihre klassischen Geschäftsmodelle auflösen.

Die grenzenlosen Möglichkeiten der Kommunikation scheinen den einst von Bertolt Brecht bei der Einführung des Rundfunks geforderten Wechsel von einem Distributions- in einen Kommunikationsapparat perfekt zu erfüllen. Brecht wollte ein Medium, das die Zuhörer nicht isoliert, sondern sie in Beziehung setzt.

Ständige Erreichbarkeit und Pseudo-Produktivität

Doch jetzt, wo Glasfasern und Mikrochips diese Vielfalt gestatten, werden auch die Nachteile und Gefahren deutlich. Internet, E-Mails, Smartphones und Laptops erzeugen auch eine übertriebene Dynamik. Ständige Erreichbarkeit und ein Gefühl der Verpflichtung beschleunigen den Alltag auf pathologische Weise. In den Betrieben führt es zu Pseudo-Produktivität, bei der das Abarbeiten von redundanter digitaler Information mit Arbeit verwechselt wird.

Hinzu kommt, dass die multimedialen Möglichkeiten zunehmend das Gefühl erzeugen, man könne die Realität dieser Welt scheinbar auf Knopfdruck abrufen. YouTube-Videoschnipsel aus anderen Erdteilen und hektische Twittermeldungen fördern ein trügerisches Gefühl des Informiertseins.

In Wahrheit sind solche Kanäle Filter, die begrenzte Einblicke auf die reale Welt freigeben. Auf ähnliche Weise erzeugen auch die obligatorische Suchmaschine Google und das Mitmachlexikon Wikipedia die Illusion, das komplette Weltwissen anzubieten. Dabei gibt es noch eine Welt neben Google.

So gesehen ist auch 40 Jahre nach Kao, Boyle und Smith nicht klar, ob ihre Entdeckungen tatsächlich dem Wohl der Menschheit dienen. Doch das ist wie mit dem Dynamit des Preisstifters Nobel. Wie es genutzt wird, liegt nicht in der Hand des Entdeckers.

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