Digitalisierung:Fünf digitale Großbaustellen für Jamaika

Breitbandgipfel Niedersachsen

Es gibt viel zu tun in Sachen Digitalisierung. Das Bild zeigt ein Rohrsystem für das Verlegen von Glasfaserkabeln.

(Foto: dpa)

Zur Digitalisierung fordern die Verhandler in den Sondierungsgesprächen bisher wenig Konkretes. Diese Themen von Breitband bis Bürgerrechte müssten sie anpacken.

Gastbeitrag von Stefan Heumann

In den Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition verhandeln Grüne, FDP und Union über die gemeinsame Politik für die kommenden vier Jahre. Dabei geht es auch um die Digitalisierung. Die Parteien hatten dem Thema im Wahlkampf enorme Aufmerksamkeit geschenkt. Der Erfolgsdruck, der nun auf einer neuen Regierung lastet, ist entsprechend groß: Der Rückstand bei Breitbandausbau, digitaler Wirtschaft oder Online-Behördengängen muss aufgeholt werden - auch weil mittlerweile die Bürgerinnen und Bürger selbst immer deutlicher die Versäumnisse der Politik spüren.

In den laufenden Sondierungsgesprächen tauschen die Parteienvertreter mit Forderungen nach "Gigabitgeschwindigkeiten" bei Internet-Anschlüssen oder "mehr Datensicherheit" bisher nur sehr allgemeine Positionen aus. Erst nach dieser Phase wird sich zeigen, ob die Koalitionäre ein konkretes digitalpolitisches Regierungsprogramm anstreben oder ob sie an den unbestimmten Digitalisierungsversprechen der letzten Regierung festhalten.

Wollen Grüne, FDP und Union den versprochenen Richtungswechsel in der Digitalpolitik einläuten, führt kein Weg an Richtungsentscheidungen und klaren Positionen vorbei. Wie bei den großen Themen der Klima- oder Einwanderungspolitik müssen die Regierungsparteien in den kommenden Wochen über viele Punkte streiten und ein ehrgeiziges Programm aushandeln.

Über den Autor

Dr. Stefan Heumann ist Politikwissenschaftler und leitet den Think Tank Stiftung Neue Verantwortung in Berlin. Die Expertenorganisation ist auf die politischen und gesellschaftlichen Fragen des technologischen Wandels spezialisiert.

Die Infrastruktur der digitalen Gesellschaft

Vorschläge, wie eine Digitalpolitik aussehen könnte, gibt es genug. Am dringendsten wäre ein klarer Kurs in der Breitbandpolitik. In kaum einem anderen digitalen Bereich ist der Erfolgsdruck höher, der Rückstand auf das, was die Politik versprochen hat, größer. Schnelle Internetleitungen sind so wichtig geworden wie Strom und Wasser. Die Verfügbarkeit schneller Internetanschlüsse spielt bei der Standortwahl von Unternehmen eine zentrale Rolle und entscheidet darüber, wie attraktiv Wohngebiete sind. Trotzdem ist Deutschland beim schnellen Internet in den vergangenen vier Jahren international weiter zurückgefallen.

Um kurzfristig Verbesserungen bei der Internetgeschwindigkeit zu erreichen, entschied sich die letzte Bundesregierung beim Netzausbau für eine Abkürzung: Sie konzentrierte sich vor allem darauf, das veraltete und überlastete Telefonnetz zu modernisieren, statt wie zum Beispiel Schweden konsequent auf den kostspieligen Neubau hochmoderner Glasfaserleitungen zu setzen. Dies hielt zwar die Kosten für den Breitbandausbau niedrig und ließ kurzfristig die Zahl schnellerer Internetanschlüsse steigen. Der Nachteil war aber: Die langsamen Internetverbindungen über die alten Kupferkabel frustrieren die Nutzer.

Eine Politik der möglichst langen Nutzung veralteter Telefonnetze gilt unter vielen Digitalpolitikern leider noch immer als Kompromiss, um den Breitbandausbau schnell voranzutreiben ohne dabei zu viel Steuergeld auszugeben. Diese Investitionsangst ist aber der Grund dafür, warum Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land der EU heute mit einer digitalen Infrastruktur dasteht, die langsamer ist als die rumänische. Echte Fortschritte beim Breitbandausbau und eine zukunftsfähige Infrastruktur wird es nur geben, wenn ernsthaft in Glasfasernetze investiert wird.

Wirtschaftspolitik: Weiterbildung ist alles

Wirtschaftspolitiker verbrachten in der vergangenen Legislaturperiode viel Zeit mit Besuchen bei Start-ups. Ohne Frage: Die Politik kann viel von Start-ups lernen - vor allem Mut zur Innovation. Eine digitale Wirtschaftspolitik muss allerdings mehr leisten, als junge Gründer zu unterstützen. Sie muss größer gedacht werden und auf die gesamte Volkswirtschaft zielen.

Das entscheidende Problem bei der Digitalisierung über alle Branchen hinweg ist angesichts des demografischen Wandels der Mangel an Fachkräften. Während in den kommenden Jahren immer weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten, verändern sich die Anforderungsprofile in den Unternehmen immer schneller und umfassender. Die Frage, die wir uns jetzt stellen sollten, lautet: Wie kann die Regierung Arbeitnehmer dabei unterstützen, vom Wandel ihres Berufs, beziehungsweise ganzer Wirtschaftszweige zu profitieren?

Eine digitale Wirtschaftspolitik bedeutet deshalb zuallererst eine neue Politik der Weiterbildung. Nur wer sich kontinuierlich weiterbildet, wird künftig im Arbeitsmarkt bestehen können. Wachsen werden nur die Unternehmen, deren Mitarbeiter den technologischen Wandel für die Weiterentwicklung des jeweiligen Geschäfts zu nutzen wissen. Allerdings müssen wir Weiterbildungspolitik mit Einwanderungspolitik kombinieren. Wer in der digitalen Wirtschaft international bestehen will, muss offen sein für Impulse von außen. Er muss den Anspruch haben, die besten Talente der Welt anzuziehen.

Angesichts der Bedeutung der Digitalisierung für die Wirtschaft lassen sich Digital- und Industriepolitik kaum mehr voneinander unterscheiden. Ob die Zukunft des Verkehrs oder industrielle Produktion - die wirtschaftlichen Chancen liegen in datengetriebenen Technologien und Geschäftsmodellen. Der Energiesektor ist ein gutes Beispiel. Digitale Technik bestimmt, wer die nächste Runde der Energiewende anführen wird. Wir brauchen ein Energiesystem, das besser zwischen der Nachfrage der Stromkunden und dem Angebot von Wind- und Sonnenenergie vermittelt. Intelligente Vernetzung und datengetriebene Marktplätze, über die Angebot und Nachfrage direkt zusammengebracht werden können, heißen die Lösungen. Dafür muss die Politik endlich regulatorische Hürden abbauen und Stromkunden und Produzenten den direkten Handel ermöglichen. Nur so können Versorgungssicherheit und wichtige klimapolitische Ziele wie die Verringerung des CO₂-Ausstoßes miteinander vereinbart werden.

Interessenkonflikte bei Verteidigung und Sicherheit im Netz

Geht es um den Schutz vor digitalen Angriffen auf Elektrizitätswerke, elektronische Spionage gegen deutsche Unternehmen oder Betrug mit gestohlenen Identitäten im Netz, müssen Sicherheitspolitiker zuallererst ein Problem lösen: den Wettbewerb zwischen Sicherheitsbehörden. Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Bundeswehr. Die alle wollen zuständig sein für "Cybersicherheit". Das Resultat: Unternehmen sind zunehmend verunsichert, an wen sie sich bei IT-Sicherheitsvorfällen zu wenden haben.

Dabei gerät im Wettbewerb zwischen Ministerien und Behörden um Zuständigkeiten, Personal und Geld leicht aus dem Blick, dass die Bundesregierung mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) bereits eine zentrale Behörde für Cybersicherheit hat. Anstatt mehrere Ämter an das gleiche Problem zu setzen, sollte das BSI als zentrale Cybersicherheits-Behörde des Bundes ausgebaut werden. Angesichts des Mangels an IT-Sicherheitsexperten gibt es hierzu keine Alternative. Es fehlt schlicht und einfach an Fachpersonal, als dass man es sich leisten könnte, den Wettbewerb um IT-Spezialisten unter den Behörden noch weiter anzufeuern.

Es geht hierbei aber auch darum, sich klar auf IT-Sicherheit zu fokussieren. Denn anders als das BSI haben Bundeswehr, Verfassungsschutz und Polizeibehörden selbst ein Interesse an Sicherheitslücken und profitieren von ihnen. Sie nutzen Schwachstellen, um in IT-Systeme einzudringen und Personen zu überwachen. Ein klarer Interessenkonflikt, wenn es um die IT-Sicherheit von Bürgern und Wirtschaft geht.

Um Fortschritte bei der Sicherheit im Netz zu machen, müssen Sicherheits- und Innenpolitiker tun, was sie nicht gewohnt sind: Sie müssen stärker wirtschaftspolitisch denken. Massenhaft unsichere Computer, Firmennetzwerke oder Industrieanlagen sind vor allem das Ergebnis von Marktrealitäten: Es ist derzeit für Hersteller ökonomisch nicht sinnvoll, bei der Entwicklung von Technologie auf IT-Sicherheit zu achten.

Das gilt insbesondere für die steigende Zahl internetfähiger Haushaltsgeräte, Überwachungskameras oder Fernseher - das "Internet der Dinge". Diese Millionen von Geräten sind ein enormes Sicherheitsrisiko für Unternehmen und Verbraucher. Bei ihrer Herstellung achten die Produzenten kaum auf Sicherheit. Dafür existieren bisher auch kaum Anreize. Weder entscheiden normale Kunden beim Kauf anhand des Sicherheitslevels eines Geräts, noch gibt es Sicherheits-Mindeststandards für die Herstellung. Setzten Sicherheitspolitiker bei diesen einfachen Marktmechanismen an, könnten Sie sehr zur Sicherheit im Netz beitragen.

Datenschutz und Datennutzung

Persönliche Daten können unsere Gesundheitsversorgung verbessern oder helfen, Städte lebenswerter zu machen. Dieses Potenzial wird in Deutschland bisher allerdings kaum genutzt. Viele Bürger fürchten, dass ihre Daten gegen sie verwendet werden - sei es, weil sensible Gesundheitsdaten in die Hände der Krankenkasse gelangen oder weil sie dazu führen, dass die Kreditwürdigkeit herabgestuft werden könnte.

Die Furcht der Bürger vor dem Missbrauch ihrer Daten ist berechtigt. Der Staat bietet keinen ausreichenden Schutz, wenn Daten weiterverkauft oder zum Nachteil von Menschen verwendet werden. Wer sich die Mühe gemacht hat, das Kleingedruckte der ellenlangen Nutzungsbestimmungen diverser Online-Angebote zu lesen, der ahnt, wie wenig Schutz seine Daten in der Praxis genießen. So erlaubt beispielsweise jeder Kunde des beliebten Wohnungsvermittlers Airbnb den Weiterverkauf seiner Nutzerdaten. Kontrolle über die eigenen Daten zu behalten, ist in unserem Alltag kaum möglich.

Will die Politik erreichen, dass mehr Bürger ihre Daten mit Ärzten, Behörden oder Unternehmen teilen, muss sie auch mehr bieten, als die bisherigen Regeln zum Datenschutz. Wir brauchen klare Regeln zu den Grenzen der Datennutzung für Unternehmen und Verbraucher - insbesondere, wenn sie an Dritte weitergegeben werden. Gleichzeitig sind harte strafrechtliche Sanktionen für die nötig, die sich nicht daran halten. Solch eine aktive Datenpolitik muss beides leisten: Den Datenmissbrauch staatlich verfolgen und die Datennutzung erleichtern.

Bürgerrechte in der digitalen Gesellschaft

Noch nie hatten deutsche Geheimdienste und Sicherheitsbehörden Zugriff auf mehr persönliche Daten der Bevölkerung als heute. Der Trend hat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begonnen und setzt sich nach dem gleichen Schema immer weiter fort: Nach jedem Terroranschlag verlangen Sicherheitspolitiker, technische Möglichkeiten noch weiter auszuschöpfen. Zuletzt erhielt der Bundesnachrichtendienst per Gesetz mehr Möglichkeiten, weltweit Daten zu erfassen und auszuwerten.

Die Forderungen der Sicherheitsbehörden nach immer mehr Daten werden in der Politik stets ernst genommen und führen häufig zu Gesetzesänderungen. Genauso ernst sollten wir aber auch die Forderungen von Bürgerrechtlern nehmen, den Automatismus zu immer mehr Überwachungsbefugnissen zu kontrollieren. Dies bedeutet zuallererst, dass neue Überwachungsmaßnahmen wie jedes andere Gesetz auf den Prüfstand gehören. Neue Regelungen, die noch tiefere Einblicke in die Privatsphäre eines Menschen erlauben, sollten zeitlich befristet und von unabhängigen Experten überprüft werden. Hat eine Gesetzesänderung nicht zur Sicherheit beigetragen oder wurde sie missbraucht, dürfen wir nicht davor zurückschrecken, die Gesetze wieder zurückzunehmen.

Wenn es um für die Demokratie wichtige Grundpfeiler wie unsere Bürgerrechte geht, müssen wir höchste Ansprüche an die tatsächliche Wirksamkeit, Transparenz und die rechtsstaatliche Kontrolle von neuen Überwachungsinstrumenten legen.

Digitalpolitik jetzt zur Chefsache machen

Im Gespräch ist bei den Koalitionären derzeit die Gründung eines eigenen Digitalministeriums oder eine Art Sonderminister im Kanzleramt. Die Frage nach Verantwortlichkeiten und Organisation ist ohne Zweifel wichtig, weil das derzeitige Wirrwarr der Zuständigkeiten innerhalb der Regierung wie eine Bremse auf Entscheidungen wirkt. Zudem trennt es viele der Experten in den Ministerien, die eigentlich zusammenarbeiten müssten.

Was für die Koalitionsgespräche aber viel mehr zählt, ist ein ehrgeiziges Programm. An die Jamaika-Koalition knüpft sich die Hoffnung, dass dies auch gelingt. Die FDP hat einen voll auf Digitalisierung ausgerichteten Wahlkampf gemacht. Auch die Grünen engagieren sich schon lange für digitalpolitische Themen. Bundeskanzlerin Merkel sprach im Wahlkampf zudem viel über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung.

Die zukünftigen Koalitionspartner müssen die Kanzlerin nun beim Wort nehmen und dann gemeinsam dafür sorgen, dass auch Taten folgen. Eine schwarz-grün-gelbe Bundesregierung ist für alle Beteiligten erst mal Neuland. Für die Digitalpolitik ist sie eine große Chance.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: