Digitale Zeichensprache:Großes Schulterzucken

Shruggie

Der Shruggie: Ein grinsender Kopf, der rechts und links die Schultern hochzieht und halb rat-, halb teilnahmslos die angedeuteten Hände von sich streckt.

(Foto: oH)

Die Kommunikation mit Emoticons wird immer bedeutsamer. Der "Shruggie" hat sich als Zeichen einer digitalen Haltung etabliert, mit der Nutzer mit fröhlichem Schulterzucken auf Unbill reagieren.

Von Dirk von Gehlen

Als im September 1982 der spätere Informatikprofessor Scott E. Fahlman als erster Mensch einem fröhlichen Lachen auf neue Weise Ausdruck verlieh, dachte noch niemand an die Entstehung eines neuen Digitaldialekts, sondern an: Doppelpunkt, Bindestrich, Klammer zu. "Ich schlage diese Zeichenfolge als Ausdruck für Witzemacher vor", schrieb der heute 67-Jährige in einer Diskussionsgruppe seiner Universität und erklärte dann: "Man muss es seitwärts lesen :-) Aber vielleicht brauchen wir eher ein Zeichen, das Dinge benennt, die NICHT lustig sind: :-( ".

Dieser Eintrag aus den frühen Achtzigerjahren gilt als Geburtsstunde des Smileys, des vermutlich bekanntesten Vertreters der sogenannten Emoticons. Mit dieser Wortkombination aus "Emotion" und "Icon" werden Zeichenfolgen beschrieben, die ursprünglich mal erfunden wurden, um das Defizit des geschriebenen gegenüber dem gesprochenen Wort auszugleichen.

Dialekt der Grinsegesichter

Dank Emoticons und den in den Neunzigerjahren ergänzten Emojis (kleine farbige Bilder) ist dieser Nachteil mittlerweile ausgeglichen. Jüngstes Beispiel für die wachsende Bedeutung dieser Bildschriftzeichen-Kommunikation ist die Ankündigung von Facebook, neben dem Daumen als Zeichen der Zustimmung ("Gefällt mir") sechs weitere Gefühlsregungen zu testen, mit deren Hilfe Nutzer auf Beiträge im Netzwerk etwa mit Erstaunen, Trauer oder Lachen reagieren können.

Wie bei jedem Dialekt gilt auch bei den Grinsegesichtern aus der digitalen Kommunikation: Menschen, die ihn nicht verstehen, lachen über jene, die den Dialekt um so selbstbewusster benutzen - und sich auch dadurch ihrer Gemeinschaft versichern. Dialekte sind Trennungs- und Bindemittel, das ist bei Sächsisch und Schwäbisch nicht anders als bei Smileys und Emoticons. Man muss beides ernst nehmen, um zu verstehen, welche Dynamik dadurch ausgelöst werden kann.

Eine besonders anschauliche Entsprechung zum Mundart-Selbstbewusstsein ist eine japanische Version des Emoticons (Kaomoji), das sich aus elf Zeichen zusammensetzt und eben nur im Internet funktioniert: der Shruggie. Diese Zeichen-Figur hat das Verhältnis von gesprochenem und geschriebenem Wort umgedreht. Man kann sie nicht aussprechen, sondern nur tippen. Ein grinsender Kopf, der rechts und links die Schultern hochzieht und halb rat-, halb teilnahmslos die angedeuteten Hände von sich streckt. Aus dem Englischen ("to shrug") leitet sich der Begriff ab, aus dem japanischen Katakana-Alphabet hat er die Schriftzeichen, aus dem Digitalen die Haltung, und überall auf der Welt wird er verstanden. Wo früher feste Wahrheiten und Regeln standen, zuckt der Shruggie nur fröhlich mit den Schultern. Er ist eine in elf Zeichen gegossene Frage, vor der die gesamte (digitale) Gesellschaft steht: Wie geht's weiter?

Möglicher Auslöser: Kanye West

Der Ursprung der Shruggie-Haltung ist wie bei vielen Internet-Phänomenen nicht mehr eindeutig zu benennen. Es spricht aber einiges dafür, dass das beiläufige Schulterzucken des Rappers Kanye West bei den MTV Music Awards 2010 ein Auslöser für die Popularität des Bildzeichens war. Mit dieser Geste überging er auf offener Bühne die Sängerin Taylor Swift und wandte sich deren Kollegin Beyonce zu. Im Netz wurde seine leicht überhebliche Geste als "Kanye-Shrug" kommentiert. In der Folge wurde der Shruggie auch als Ausdruck eines eher teilnahmslosen Triumphs in die Schriftwelt von Spielern bestimmter Computerspiele übernommen.

Mittlerweile hat er sich als Zeichen einer digitalen Grundhaltung etabliert, mit der Nutzer mit fröhlichem Schulterzucken auf größeren und kleineren Unbill des Alltags reagieren. Stets wahrt der Shruggie dabei eine optimistische Offenheit gegenüber der Welt. Er kennt keine Wahrheiten, sondern nur ein Schulterzucken. Dabei sind seine Arme so weit ausgebreitet, dass sie Raum für allerlei Interpretationen bieten - von agnostischer Distanz bis zu buddhistischer Gelassenheit.

Die Digitalisierung hat aus dem "So macht man das" ein "So probiere ich das" gemacht

Der Shruggie vereint diese Ansätze und kann somit grinsend als Leitbild für das digitale Zeitalter sowie als Replik auf den ständigen Wandel gelesen werden, der ihn hervorgebracht hat. In Wahrheit weiß nämlich niemand mehr darüber als der Shruggie. Denn seine Antwort auf die Ungewissheiten und Umbrüche, die uns noch bevorstehen, ist es, eben keine Antwort zu haben, dafür aber eine optimistische Grundhaltung.

Das ist allemal ehrlicher als die klassischen Autoritäten, die befragt werden, wenn etwa die Flüchtlings- oder die Griechenland-Krise gemeistert werden sollen, die aber in den Alltagsfragen des digitalen Lebens komplett überfordert sind. Wer würde beispielsweise ernsthaft einen Talkshow-Politiker oder einen Philosophen um eine Einschätzung in der Frage bitten, ob man besser eine Fremd- oder eine Programmiersprache lernen solle? Oder wie man die Privatsphären-Einstellungen auf Facebook sinnvoll nutzt?

Die Digitalisierung, die alle Bereiche des Lebens mindestens berührt, hat aus dem "So macht man das" vorheriger Generationen ein "So probiere ich es" der gegenwärtigen Generation gemacht. Orientierung gewinnt man heute kaum mehr durch festgeschriebene Regeln, sondern vielmehr durch die Beispiele derjenigen, die gerade die gleichen Probleme gelöst haben - jetzt und nicht in der Vergangenheit. So wie es der amerikanische Computerpionier Alan Kay schon in den Siebzigern prophezeite: "Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu erfinden." Autorität wird von Authentizität abgelöst, und der altersweise Ratgeber wird - so merkwürdig das klingen mag - gerade vom Shruggie und seiner fragenden Grundhaltung ersetzt. Sie scheint die beste Voraussetzung zu sein, um dem Wandel zu begegnen, der nicht aufhören will.

Der Historiker Yuval Harari hat dies unlängst mit Blick auf die junge, fragende Generation so auf den Punkt gebracht: "Wenn im Laufe der Geschichte ein Zehnjähriger gefragt hat, in welcher Welt er mit 40 leben wird, konnten ihm seine Eltern eine ziemlich gute Prognose geben. Jetzt blicken wir 30 Jahre nach vorne, und niemand weiß irgendwas. Das Einzige, was wir dem Zehnjährigen sagen können, ist: Die Welt wird komplett anders sein."

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