Der neue Trend: Twitter:Tschilp, tschilp, bla, bla

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Das große Rauschen: Twittern ist ein einfaches wie unbegreifliches Phänomen. Via SMS zwitschern die Mikro-Blogger Belanglosigkeiten ihres Alltags in die Web-Welt.

Bernd Graff

Manche Phänomene des Internets sind beides zugleich: absolut einfach und absolut unbegreiflich. Das Phänomen des sogenannten Mikro-Bloggings könnte jeder auf Anhieb begreifen. Denn technisch gesehen ist daran nichts Unverständliches. Man schreibt zum Beispiel eine SMS, diese wird ins Netz gestellt, und jeder der will, kann sie lesen.

Die gewöhnliche Tonlage des Netz-Gezwitschers ist oft von ergreifender Schlichtheit. Ob diese beiden mehr zu sagen haben? (Foto: Foto: dpa)

Unklar daran ist nur, warum man das tun sollte, warum man also überhaupt mikro-bloggen oder, wie man - benannt nach dem prominentesten Mikro-Blogging-Anbieter - inzwischen auch sagt, warum man "twittern" sollte.

Blogger veröffentlichen im Netz Gedanken und Beobachtungen. Das tun sie in jeder beliebigen Länge, und sie tun es in selbstgewähltem Turnus. Das relativ neue Mikro-Blogging unterscheidet sich davon lediglich darin, dass die Textlänge der im Web veröffentlichten Beiträge in der Regel auf 140 Zeichen begrenzt ist. Man könnte darum einen einzelnen Mikro-Beitrag, der hier "Update" oder "Tweet" genannt wird, auch schlicht als eine SMS an die ganze Welt beschreiben. Und tatsächlich werden die meisten dieser Kurzmitteilungen, die dann über die Webadresse des Dienstes eingesehen werden können, per Handy eingespeist.

Gedanken und Befindlichkeiten

Die Webseite des kostenlosen, 2006 gegründeten Mikro-Blogging-Angebotes Twitter (Gezwitscher) ist eine der beliebtesten. Jeder kann sich hier registrieren und entscheiden, ob seine Beiträge, die "Tweets", dann öffentlich einsehbar oder nur von einem Kreis von Freunden abrufbar sein sollen. Außerdem kann man über die eigene Twitterseite verfolgen, was Freunde und Bekannte gerade so treiben, weil deren Einträge ebenfalls dort einlaufen, sofern man sie abonniert hat.

Neben Twitter gibt es noch weitere Kurzmitteilungsplattformen im Web, etwa Jaiku, eine von Google übernommene finnische Seite oder das sogar auf 30 Zeichen Beitragslänge begrenzte "PhrazIt", auf der vor allem Kürzestkritiken veröffentlicht werden, von Filmen, Büchern, Restaurants.

Die wirklich spannende Frage aber bleibt: Warum sollte man sein Leben, seine Gedanken und Befindlichkeiten für alle einsehbar ins Internet stellen? Denn, so viel ist auch schon klar: Die gerade heftig diskutierte Möglichkeit, dass der Dienst zur Verbreitung von Augenzeugen-Nachrichten aus Krisenregionen genutzt wird, so wie es vor wenigen Tagen aus den von Terrorangriffen heimgesuchten Luxushotels in Mumbai geschah, diese Anwendung ist eher die Ausnahme als die Regel.

Die gewöhnliche Tonlage des Netz-Gezwitschers aus ungefähr drei Millionen täglichen Einträgen der mutmaßlich eine Million Twitter-Mitglieder ist monoton und von ergreifender Schlichtheit. Normale Einträge lauten: "Eltern zurück aus dem Urlaub. Bekomme ich Geschenke?" Oder: "Hocke im Zentrum von Moskau und warte auf Kollegen. Er ist immer zu spät."

Stenographie des Lebens

Zur Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Dienstes gibt es auf Youtube einen Trickfilm, "Twitter in Plain English", der erläutert, dass Menschen untereinander gerne "die Daten ihres Alltags austauschen", dass aber kaum jemand auf die Idee käme: "Ich trinke gerade Kaffee" und andere "kleinen Ereignisse in jedermanns Leben" per Mail an seine Freunde zu verschicken. Aus diesen aber bestünde nun einmal das Leben. Und darum, so muss man das wohl deuten, habe Twitter jede Existenzberechtigung, weil es das Leben selbst stenographiere.

Von Jorge Luis Borges, dem argentinischen Schriftsteller, stammt eine beeindruckende Erzählung: "Del rigor en la ciencia" Darin berichtet er von der Arbeit der Kartographen in einem fiktiven Reich, die nicht ruhten, bis sie "eine Karte des Reichs erstellt hatten, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte."

Würde man das Getwitter als Mitschrift der globalen Geschäftigkeit bezeichnen, würde man daraus dennoch nicht schlau werden und wüsste nichts über das Denken der Menschen. Denn ebenso wie eine Karte im Maßstab 1:1 keine Orientierung verschafft, weil sie die Welt nur doppelt, mangelt es einer weltweiten Mitschrift von Gedanken an Abstraktion: Wenn alle 40 000 Besucher eines Fußballspiels ihre Erlebnisse kundtun, entsteht in Summe eben nicht der akkurateste Spielbericht, selbst wenn jede Spielsekunde von allen protokolliert würde.

Darum mag der Hinweis, Twitter sei eine Mitschrift des Lebens selbst, zugleich stimmig wie unsinnig sein. Er stimmt, weil man in nie gekannter Weise am Leben der anderen teilhaben kann. Er ist aber auch unsinnig, weil Teilhabe an jedem Leben unmöglich ist. In Borges' Geschichte heißt es: "Die nachfolgenden Geschlechter, die dem Studium der Kartographie nicht mehr so ergeben waren, waren der Ansicht, diese ausgedehnte Karte sei unnütz, und sie überließen sie den Unbilden der Sonne und der Winter."

© SZ vom 5.12.2008/jb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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