Der gute Ruf im Internet:Wider die "Punkte-Hurerei"

Wer online einkauft oder ein Hotel buchen will, orientiert sich oft an den Bewertungen von Unbekannten. Doch wie glaubwürdig sind diese und wie gelingt es einem selbst, bei Bewertungsportalen nicht zu viele persönliche Daten preiszugeben?

Christopher Schrader

Es gab Zeiten, da hatte Harriet Klausner einen sehr guten Ruf und wurde öffentlich zum Vorbild erklärt. Inzwischen ist die Frau aus Georgia zu einer Witzfigur des Internets geworden. Der tiefe Fall hatte einen vergleichsweise kleinen Auslöser: Auf einer Internet-Seite wurde eine Rechenmethode geändert, die ermitteln soll, was einen guten Ruf ausmacht.

Dem Internet-Buchhändler Amazon zufolge hat Klausner in elf Jahren 26.767 Bücher rezensiert (Stand am Montagmorgen dieser Woche). Das wären sechs bis sieben Werke pro Tag. Damit stand die Frau, die sich als studierte Bibliothekarin und Schnellleserin bezeichnet, bis 2008 an der Spitze der Rezensenten-Rangliste von Amazon. Doch dann änderte die Firma das Bewertungssystem.

Seither ist nicht mehr die reine Zahl von Buchbesprechungen entscheidend für die Rangliste der Amateurkritiker, sondern auch wie hilfreich andere Kunden die Bewertungen einstuften. Klausner steht nun auf Platz 1065 der Liste. Dass sie die vielen Bücher wirklich liest, bezweifeln viele Internet-Nutzer ohnehin mit sarkastischen Kommentaren.

Ein gutes Gefühl

Für den Internet-Experten Randy Farmer zeigt der Fall Klausner auf beispielhafte Weise, welche Fehler man machen kann, wenn es um Vertrauen im Internet geht. Die Buchbesprechungen anderer Amazon-Nutzer sollen Kunden der Webseite schließlich ein gutes Gefühl vermitteln und sie zur Bestellung anregen.

"Es ist nutzlos, wenn jemand einen guten Ruf nur wegen seiner Aktivität bescheinigt bekommt", sagt er mit Blick auf die Rekord-Rezensentin. "Das setzt die falschen Anreize und nutzt niemandem." Farmer weiß, wovon er spricht: Er hat früher für Yahoo gearbeitet und ist nun Experte für sogenannte Reputationssysteme geworden, mit denen Webseiten und Online-Gemeinschaften im Internet Vertrauen erzeugen wollen.

Genau danach sehnen sich viele Internet-Nutzer. Sie haben erkannt, dass der Preis für interessante Dienste im Netz oft die Preisgabe der eigenen persönlichen Daten ist, die der Anbieter des Service zu Geld machen möchte. Das löst bei den meisten Unbehagen aus, erklärt die Soziologin Martina Löw von der Technischen Universität Darmstadt: "Eigentlich möchten Menschen in jeder Situation den Fluss persönlicher Informationen kontrollieren."

Sie offenbaren zwar je nach sozialem Kontext Teile der Privatsphäre, aber der Chef weiß nicht unbedingt etwas über den Sport, den man ausübt, und die Mitsänger im Chor nichts über eine Urlaubsbekanntschaft. Im Internet aber werden solche Angaben aus diesem Kontext gerissen. "Da findet sich plötzlich alles an einem Ort und für alle sichtbar." Die Kontrolle hat der Einzelne verloren.

Neue Vertrauenskultur

Mit diesem Unbehagen wollen Experten die Internet-Nutzer nicht länger allein lassen. Eine Vertrauenskultur solle das "Wohlergehen der Personen sichern, die das Internet im Alltag sicher nutzen wollen", sagt Johannes Buchmann, ebenfalls von der TU Darmstadt. Dahinter stecken auch wirtschaftliche Interessen: "Wenn wir die Probleme nicht lösen, die sich aus der Sorge der Menschen über den Umgang mit ihrer Privatsphäre ergeben, wird das die weitere Entwicklung der Internet-Dienste ernsthaft behindern", sagt er.

Zumal die schon begonnene Ära des mobilen Überall-Internets die Privatsphäre immer weiter einschränkt - schon wenn die Orte erfasst werden, an denen ein Nutzer mit dem Handy online geht, und erst recht, wenn Werbetreibende diese Ortsangaben nutzen.

Auch Rehab Alnemr, eine ägyptische Informatikerin am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, ist überzeugt: "Wenn zwei Teilnehmer im Internet miteinander in Verbindung treten sollen, brauchen sie ein Minimum an Vertrauen." Buchmann und sie waren Mitorganisatoren zweier wissenschaftlicher Konferenzen, die sich in der vergangenen Woche mit dem Thema beschäftigt haben: Alnemr hat ein Symposium über Vertrauen und Reputation an ihrem Institut organisiert und Buchmann leitet ein Projekt über Vertrauen und Privatsphäre, dass die nationale Technikakademie Acatech in Berlin vorgestellt hat.

Möglichst viele Daten sammeln

Vertrauen stellt sich dabei als Begriff mit zwei Aspekten dar. Wer sich im Internet bewegt, braucht zum einen Vertrauen zu anderen Nutzern, das sich aus der Reputation etwa in sozialen Netzwerken speisen kann. Im Umgang mit Webseiten und kommerziellen Anbietern braucht es zum anderen das Vertrauen, dass die Betreiber der Online-Angebote möglichst wenig persönliche Daten erheben und speichern und die Privatsphäre achten.

"Das widerspricht den Impulsen von Informatikern, die so viele Daten sammeln, wie sie können, und sie so lange aufheben wie möglich", sagt Ian Brown von der Oxford University. Der Schutz der Privatsphäre lasse sich daher kaum mehr bei existierenden Diensten nachrüsten, er müsste aber ins Design neuer Angebote einfließen. "Wenn man wartet, bis sich die Leute beschweren, untergräbt man das Vertrauen ins Internet."

Als Beispiel nannte Brown Abrechnungssysteme im Straßenverkehr: In Londons Innenstadt, wo eine saftige Maut erhoben wird, erfassen Kameras die Nummernschilder aller einfahrenden Autos, die dann zentral gespeichert werden. So entstehe ein Bewegungsprofil der Fahrer, sagt der Computerfachmann aus Oxford. In der chinesischen Stadt Shenzen hingegen würden Mautzahlungen mit Funkchips abgebucht, ohne persönliche Angaben zu erfassen.

Wegwerf-Identitäten

Claudia Eckert von der Technischen Universität München schlägt vor, dem Datensammeln zu begegnen, indem Netznutzer Wegwerf-Identitäten annehmen können. "Der Internetnutzer würde sich bei einer sicheren Firma mit Klarnamen und Kontodaten anmelden, und diese würde dann eine Reihe geheimer Identitäten vergeben", sagt sie. Für jeden Vorgang im Internet, etwa einen Einkauf, würde man eine davon benutzen.

Die Daten müsste man sich weder ausdenken noch umständlich irgendwo abtippen, eine gesicherte Software könnte das übernehmen. Die ausgebende Firma würde dem Verkäufer garantieren, dass sich hinter dem Alias eine reale Person verbirgt und womöglich die Zahlung abwickeln. Und der Kunde könnte die Identität nach Abschluss der Transaktion aufgeben, sodass der Verkäufer seine Daten nicht weiter nutzen kann. Die Ausgabeinstanz müsste eine Firma sein, die kontrolliert wird wie heute bereits Zertifizierungsstellen für gesicherte Webseiten.

Der virtuelle Identitätenhändler würde seinen Nutzern somit zeitlich begrenzt einen guten Ruf verschaffen, den eines zuverlässigen Kunden. In vielen anderen Diensten, zum Beispiel auf sozialen Webseiten, müsste ein guter (Benutzer-)Name hingegen durch konsistentes Verhalten über längere Zeit erworben werden. Reputation als eine Art sozialer Klebstoff für Online-Kontakte "soll gutes Verhalten belohnen und schlechtes bestrafen", sagt Audung Jøsang von der Universität Oslo.

Oft stützen Internet-Nutzer ihre Entscheidungen auf den Ruf eines Unbekannten: Wer sich an einer Ebay-Auktion beteiligt, schaut auf die Farbe der Sterne, die Verkäufer erworben haben. Auf einer Webseite zur Partnersuche zählen womöglich die Noten von früheren Kontakten. Und vor der Buchung eines Hotels liest der Interessent die Bewertungen früherer Gäste.

Vertrauen im Widerspruch

Damit entstehen eine Reihe von Problemen. "Um auf diese Weise Vertrauen zu fassen, muss ich persönliche Informationen über den anderen bekommen", sagt Alnemr. "Die verschiedenen Aspekte von Vertrauen stehen miteinander im Widerspruch. Möglichst wenig Daten zu sammeln, kann nicht das allgemeine Rezept sein." Das macht es umso wichtiger, den Ruf von Teilnehmern auf sozialen Webseiten sorgsam zu ermitteln.

Die Betreiber müssen sich gegen Versuche der Manipulation schützen, gegen gefälschte Voten zum Beispiel. Gefährlich können auch Nutzer sein, die mit einer großen Zahl trivialer Transaktionen einen guten Ruf aufbauen, um einen großen Betrug vorzubereiten und dann abzutauchen. "Man muss ehrlich sagen, bislang sind ziemlich wenige Angebote robust gegen Manipulationsversuche", sagt Jøsang.

Es gibt in der Szene keine Erinnerung an frühere Fehler" beim Auslegen von Programmen, die den Ruf von Internet-Nutzern ermitteln, klagt Randy Farmer. "Jeder meint, so schwer kann das ja nicht sein und Hauptsache, es sieht cool aus." Dabei kann ein Fehler ein hoffnungsvolles Start-up-Unternehmen in den Ruin führen. Als Beispiel nennt er eine ehemalige Dating-Seite namens Consumating.

Als die Macher ein Punktesystem einführten, damit die Teilnehmer Erfahrungen mit anderen Teilnehmern weitergeben konnten, "änderte sich der ganze Charakter der Seite", sagt Farmer. "Das Punktesammeln wurde vom Mittel zum Zweck." Viele Nutzer verfielen in ein Verhalten, das Farmer "Punkte-Hurerei" nennt, sie verkauften sich praktisch für positive Bewertungen. Neue Mitglieder hingegen hatten kaum mehr eine Chance, Fuß zu fassen oder ein Rendezvous zu vereinbaren, weil sie nicht an Punkte kamen. Am Ende wurde der Dienst eingestellt.

Man darf nie vergessen", fasst Rehab Alnemr zusammen, "Reputation ist ein Werkzeug, nicht das Ziel des Angebots." Vertrauen zu bilden ist nicht der Zweck der Internet-Nutzung, sondern Voraussetzung.

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