Der gläserne Mensch:Sie haben geirrt, Herr Orwell

Wie sich die Zeiten ändern: Früher gingen die Menschen auf die Straße, um gegen Volkszählungen zu demonstrieren. Heute lassen sie sich bereitwillig vom Staat überwachen.

Hans Leyendecker

Vor zwanzig Jahren gab es in Deutschland eine Volksbewegung, die Ungehorsam gegen den vermeintlichen Überwachungsstaat organisierte: Sie forderte zum Boykott der Volkszählung auf, und sogenannte "VoBo-Aktivisten" skandierten: "Meine Daten müsst ihr raten".

Wie sich die Zeiten ändern: Bis 2010 will die Bundesregierung alle wichtigen Daten der Deutschen erneut zentral erfassen lassen - und Umfragen zeigen, dass mittlerweile mehr als drei Viertel der Bundesbürger keine Bedenken gegen einen neuen Zensus haben.

"Die Bundesrepublik war nie ein Überwachungsstaat, aber wir entwickeln uns zu einer Gesellschaft, in der immer mehr Überwachung stattfindet", stellt hingegen der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, nüchtern fest.

Seltsamerweise scheint diese Entwicklung die meisten Bürger nicht zu stören; vielleicht blicken auch viele in der vernetzten Welt nicht mehr durch. Ständige Video-Überwachung gilt vielen Bürgern als Schutz; und der neue biometrische Ausweis ist schick, nur ein bisschen teuer. Privatsphäre? Wer im Internet ohne Verschlüsselungstechnik telefoniert, verzichtet freiwillig darauf.

Heiligt der Erfolg die Mittel?

Dass Kriminalbeamte bei einem Verfahren gegen Nutzer von Kinderpornographie jetzt durch die Hilfe von Kreditkarteninstituten mit den Methoden der Rasterfahndung mehr als 22 Millionen Kreditkarten überprüfen, wäre früher unvorstellbar gewesen. Ein guter Zweck, gewiss, aber heiligt der Erfolg die Mittel?

Wenn es um schwerste Straftaten geht, steht für die meisten Bürger die Notwendigkeit aufwendiger Ermittlungen längst außer Frage. So wurden im Sommer 2005 auf Antrag der Nürnberger Staatsanwaltschaft etwa 2100 Kreditinstitute und Rechenzentralen ersucht, Daten zu "kartengestützten Zahlungstransaktionen" zur Verfügung zu stellen, um Licht in die mysteriöse Mordserie an ausländischen Kleinunternehmen zu bringen.

Auch das Bankgeheimnis ist schon lange eine Legende. Geldinstitute stellen Zinsen, Dividenden und Spekulationsgewinne in einer Erträgnisaufstellung für den Kontoinhaber zusammen, die das Finanzamt anfordern kann.

Rentenversicherer und Pensionskassen melden den zuständigen Finanzämtern, wie viel sie jedem Einzelnen auszahlen. Seit April 2005 dürfen nicht nur Finanzämter, sondern auch die Erbringer von Sozialleistungen Daten von Konteninhabern wie Name, Geburtsdatum, Anschrift oder die Zahl der Konten bei Kreditinstituten einsehen - und das ohne Anfangsverdacht auf eine Straftat.

Deutschland auf dem Weg zum Überwachungsstaat

Der fast ungehinderte Blick auf die Konten brachte vor einiger Zeit auch den Präsidenten des Bundes der Steuerzahler, Karl Heinz Däke, zu der Schlussfolgerung, Deutschland sei auf dem Weg zu einem "Überwachungsstaat, wie wir ihn uns bisher nicht vorstellen konnten". Dabei war das Bankgeheimnis schon lange vorher durchlöchert.

Das Bundesverfassungsgericht hatte mit Blick auf Steuergerechtigkeit verlangt, dass Steuersünder aufgespürt werden. Seit Jahren melden bereits die EU-Staaten und die USA Zinseinkünfte deutscher Bürger an das Bonner Bundesamt für Finanzen.

Daher dürfte sich auch die Kapitalflucht, die manchen Anleger im Frühjahr 2005 in die Schweiz oder nach Österreich führte, mittelfristig als Irrweg herausstellen. Zwar leisten die Eidgenossen in der Regel keine Amtshilfe bei Steuerhinterziehung, doch die Schweizer kooperieren beispielsweise in Fällen hinterzogener Mehrwertsteuer mit europäischen Behörden.

Dass etwa im Korruptionsfall Siemens ausgerechnet Strafverfolger in Liechtenstein, die einen Verdacht auf Geldwäsche hegten, die Ermittlungen ins Rollen brachten, macht diese Entwicklung augenfällig.

Orwell und Kafka verbinden sich

Die Begründungen der Behörden für das Sammeln und Speichern von Daten wechseln: Früher war es der Dauerskandal des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Dann rückte die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in den Vordergrund. Aber längst gibt es andere Dimensionen bei der Datenjagd: Adressenhändler und Unternehmen sammeln Informationen über Einkommensverhältnisse, Zahlungsmoral und Konsumverhalten und verknüpfen ihre Erkenntnisse mit Stadtplänen und digitalen Landkarten. "Geomarketing" heißt das. Straßenabschnitte mit säumigen Zahlernbekommen schlechte Noten; gute Noten erhalten Viertel mit guter Zahlungsmoral. Orwell und Kafka verbinden sich dieser Tage - und keiner schaut mehr hin.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: