Big Data und die Folgen:Der vermessene Mensch

Wer bei der Huk-Coburg versichert ist und sein Fahrverhalten überwachen lässt, bekommt einen günstigeren Tarif. Wenn dies so weitergeht, wird bald jede Zuckung überwacht.

Von Helmut Martin-Jung

Über dem Eingang zum Tempel des Apoll in Delphi stand in der Antike die Mahnung "Erkenne dich selbst". 2000 Jahre später, im Zeitalter der allumfassenden Vernetzung, hat es den Anschein, als nähme der Mensch diese Aufforderung etwas zu wörtlich. Sensoren, die bereits Millionen Deutsche am und bald wohl auch im Körper tragen, vermessen diesen Körper auf Schritt und Tritt. Die Abschaffung des Bargelds wird erwogen, mit der Folge, dass jeder Kauf eines Kaugummis in irgendeiner Datenbank verzeichnet wäre. Autos haben sich von Geräten der Fortbewegung zu rollenden Computern voller Sensoren gewandelt. Und nun plant die HUK-Coburg, der Marktführer bei den Autoversicherern, einen sogenannten Telematik-Tarif: Wer bereit ist, sein Fahrverhalten von einer Blackbox überwachen zu lassen, bekommt die Versicherung billiger.

Wenn dies so weitergeht, wird es schon bald kaum mehr eine Zuckung geben, durch die der Mensch keine Daten mehr produziert. Und auch dessen Umgebung wird immer mehr bevölkert sein von Geräten, die vernetzt sind: dem Stromzähler im Keller, dem Thermostat im Wohnzimmer, dem Internet-Herd, von dem man sich ein Kochrezept aufsagen lassen kann. So entstehen nicht Ströme, sondern Ozeane von Daten. Das wird den Alltag, ja das Leben an sich verändern.

Da wird ein Ozean angerichtet. Und keiner merkt es so richtig

Die Apologeten des Datenparadieses ergehen sich in Szenarien, wie künftig jedermann einen digitalen persönlichen Assistenten bekommen könnte; was heute höchstens die Chefs von Unternehmen und Staaten haben. Auch die Gesundheitsvorsorge werde sich dramatisch verbessern: wenn zum Beispiel Sensoren im Körper nachts bereits Unregelmäßigkeiten des Herzschlags feststellen, obwohl der Mensch davon noch lange nichts spürt. Die Datenberge lieferten Firmen neue Erkenntnisse, sie könnten helfen im Kampf gegen Krebs; so etwas klingt immer gut.

Diese Argumente sind alle nicht falsch, es ist auch nicht mehr eine ferne Zukunft, um die es dabei geht. Manches davon gibt es bereits, die Apple Watch ist eine Mischung aus Körperdaten-Messgerät und persönlichem Referenten. Es ist auch müßig zu sinnieren, wie die Vernetzung der Welt aufgehalten werden könnte - sie wird entweder auch mit den Skeptikern geschehen oder aber über sie kommen. Die Datenindustrie hat einfach zu viel Verführungs- und ökonomisches Wachstumspotenzial, als dass man sich ihren Produkten und Folgen entziehen könnte.

Schon früher haben sich Menschen von Technik überrollt gefühlt und kamen mit der Beschleunigung nicht zurecht. Nur war der Übergang von Postkutsche zu Eisenbahn nichts im Vergleich zu dem, was heute passiert. Die Entwicklung in der Halbleitertechnik vollzieht sich exponentiell - das heißt, sie beschleunigt sich immer stärker. Schon auf Handys kann man heute Spiele spielen, die früher die teuersten Rechner überfordert hätten.

Unter denjenigen, die mit Daten ihr Geld verdienen, kursiert bereits die Devise, Daten bitte niemals zu löschen - wer weiß schon, was man mit der Technik von morgen nicht alles aus den Klumpen von heute noch herauslesen kann. Das bedeutet aber auch, dass man in den Weiten der Daten-Ozeane demnächst nicht nur mit Schleppnetzen unterwegs sein wird. Sondern es wird auch die Möglichkeit wachsen, ganz gezielt mit dem Speer zu jagen - und zwar nicht nach Schwärmen von Fischen wie bisher, sondern nach einem einzelnen.

Denn das ist doch vorhersehbar: Das Datenparadies wird zum einen ein Paradies für Unterdrücker sein, und es führt auch Demokratien in Versuchung, die Freiheitsrechte zu unterhöhlen, bis davon kaum mehr als deren jeweilige Bezeichnung übrig bleibt. Im Namen des Kampfes gegen Terrorismus nehmen sich die Geheimdienste, was sie nur kriegen können; mit der Vorratsdatenspeicherung wird die Einwohnerschaft unter Generalverdacht gestellt. Die angehäuften Datenschätze ermöglichen es auch Firmen, damit Gewinnmaximierung zu betreiben - oft genug, ohne dafür dem Individuum, diesem Datenlieferanten, eine angemessene Gegenleistung zu gewähren. Und fast immer, ohne ihm dies explizit zu sagen.

Insofern ist es ein Novum, wenn sich mit den datengestützten Tarifangeboten der Autoversicherer künftig der Wert von Daten in einem Preis ausdrückt. Das ist ja wohl das Mindeste: dass etwas, das einen Wert hat, auch ein Preisschild bekommt; dass man auch etwas dafür erhält, wenn man sich der ständigen Beobachtung aussetzt, wie scharf man an der Kreuzung bremst und wie schneidig man auf einer verlassenen Landstraße anfährt. Menschen erfinden Technik ja meistens, damit sie ihnen dient. Aber allzu oft sind sie plötzlich die Knechte.

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