Das Internet (6):Lesezirkelschlüsse

Wie der Online-Journalist aus einem Missverständnis entstand, zum Wunderkind aufstieg und schließlich zum Kollegen wurde.

Thomas Becker

Ist er das? Sieht er so aus, der Online-Journalist? Mit einer Hand hält er den MD-Recorder unter die Nase des Bundestrainers, mit der anderen bedient er Digital- und Webcamera ... Der Online- Journalist als Web-Reporter: Ein Technikbündel. Meist aber findet man den Online-Journalisten am Bildschirm, in der Umgebung von Content-Management- Systemen, Bildbearbeitungs- und Downsize-Programmen. Rein phänotypisch ist er vom gemeinen Journalisten kaum zu unterscheiden, er wirkt nur stärker gebeugt: Gram infolge chronischer Existenzangst.

Aber das stimmt natürlich alles nicht. Der Online-Journalist ist ein Pionier. Hat es, wie seine Zielgruppen-Kollegen, geschafft, sich von den Informationsstandards des vergangenen Jahrtausends zu lösen, kauft nur noch auf dem Internetbasar e-bay ein und ist überhaupt ein ungeheuer fixes Kerlchen. Es macht ihm Spaß, seinen Computer mit Befehlen dutzendweise zu füttern, ehe der Text lesbar ist. PR, Marketing und Banner-Werbung lässt er dabei nie aus den Augen. Tausendsassas, diese Onliner.

Zugegeben: Stimmt auch nicht ganz. Klingt aber immer noch besser als jener selbst von wohlmeinenden Kollegen geäußerte Satz: "Ihr seid doch die, die die Zeitung ins Netz stellen, oder?"

Könnten wir noch ohne leben? Arbeit, Freizeit, die Ökonomien von Kontinenten, ja der Weltfrieden hängen vom Internet ab. So heißt es zumindest. In einer Serie wollen wir das Paralleluniversum durchstreifen, erzählen, wie es wurde, was es ist, was es kann und - weil Utopien zum Cyberspace gehören wie 0 und 1 - , was aus ihm werden könnte. Heute geht es um den Online-Journalismus.

Der Online-Journalist scheint ein einziges Missverständnis zu sein. Das könnte an seiner Geschichte liegen: Der Online-Journalist kam fast gleichzeitig mit dem Internet zur Welt, er ist der jüngere Zwilling. Kaum war das Netz da, konnte jeder darin publizieren. Denn während Veröffentlichungen in Zeitungen, Radio oder Fernsehen nicht so einfach sind, lässt sich eine HTML- Seite fast so schnell bauen wie mit Inhalt füllen. Wer also darf sich Online- Journalist nennen: nur der seriöse Internet-Redakteur von Spiegel oder SZ oder auch der Tagebuchschreiber und Rezeptesammler?

Von Beginn an gab es ein Problem mit der Glaubwürdigkeit des neuen Dienstleisters. Was sind das für Leute? Dickbrillige Programmierer, die etwas schreiben können? Oder technikfremde Literaten, die plötzlich mit HTML- Befehlen hantieren? Und eine Zeitlang arbeiteten Online-Redaktionen tatsächlich nach dem Prinzip der "Eier legenden Wollmilchsau". Es durfte ja alles nichts kosten. Erst einmal wollten die Verlage sehen, ob das Internet nicht eine Modeerscheinung war. Und siehe da: Es war nicht.

Der Online-Journalist wurde wichtig. Er bekam zwar keinen Tarifvertrag, wurde aber in Büchern und Seminaren verhandelt, galt als einer der angesagtesten Berufe. Das Grimme-Institut erfand einen Online-Oscar, andere Internet-Awards folgten. Entsprechende Studiengänge tauchten an den Unis auf. Bewerber für Online-Volontariate füllten die Mailboxen. Der Verlag Gruner+Jahr veröffentlichte auf seiner Homepage stolz ein Foto des ersten Jahrgangs seiner Volontärs-Klasse - es sollte die einzige bleiben: Der Ausbildungsgang wurde geschlossen, nur wenige Absolventen fanden einen Job. Noch vor zwei Jahren lockte die Börse mit Gewinnen, die jeden nach Tarif bezahlten Kollegen gelb werden ließen vor Neid. Verlage schufen Online-Ressorts mit mehr als 30 Redakteuren. Gedankengebäude wuchsen in den Online-Himmel - endeten aber mit der dotcom-Krise als Rohbau.

Ein paar Hausbesetzer sind nach dem Hype geblieben, nagen nun am Hungertuch, wollen und können den erreichten Standard aber kaum mehr aufgeben. Viele wurden Opfer der Verlagskrise. So entließ allein faz.net 40 von 60 Mitarbeitern. Dabei ist die Arbeit der Online-Journalisten gefragt: Mehr als 23 Millionen Deutsche sind online; Spiegel.de verzeichnet mehr als 100 Millionen Klicks im Monat. Doch Online-Journalismus ist noch immer unrentabel. Qualität kostet, auch im Netz. Gäbe es nicht die Umsatz verheißenden, im Vergleich zur Zeitung billigeren Rubrikenmärkte im Netz, wer weiß, wie viele journalistische Online-Angebote mit Anspruch noch übrig wären.

Dabei muss sich auch die Zeitung wandeln, um noch in die Zeit zu passen. Die Verlinkung mit den Online-Redaktionen ist ökonomisch und journalistisch überfällig. Das Bewusstsein, dass Zeitung künftig noch mehr analysieren muss, während im Netz die Nachrichten nahezu in Echtzeit geliefert werden - und nicht mit einer Verspätung von bis zu zwei Tagen am Wochenende -, dieses Bewusstsein ist da. Auch die Vorteile des Web - Aktualität, Interaktivität, Multimedialität, zeitliche und räumliche Unbeschränktheit, weltweiter Zugang - liegen auf der Hand, ebenso bislang verschenkte Synergiemöglichkeiten. Allein, es fehlt das Konzept, wie die Verschränkung von on- und offline geschehen soll.

Das Zauberwort heißt Cross-Media, doch es ist bislang kaum mehr als ein Etikett. Das Ziel ist klar: Das Runde - dieser mühsam, aber wunderbar abgestimmte Lese-Zirkel aus Leitartikel, Reportage und Glosse - muss ins Eckige, in das unergründliche Bildschirm-Universum. Es gilt, gemeinsame Geschäftsmodelle zu entwickeln, damit ein qualitativ hochwertiges Angebot entstehen soll. Denn was gut sein will, darf auch kosten, obwohl sich bislang noch kaum jemand traut, für journalistische Inhalte im Netz Geld zu verlangen.

Mehrwert schaffen, aber flott!

Und doch besteht kein Zweifel, dass der Mix gelingt. Vielleicht mit Hilfe des News-Desks, der gemeinsamen Kommandobrücke von Print und Online, wie sie in den USA gang und gäbe ist. Dort sind eigene Radio- und TV-Stationen in der Redaktion so selbstverständlich wie auch die ausgedehnte Anwesenheit der Redakteure: 7/24, Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche. Der Online-Journalist wird in diesem News-Room seine Stärken ausspielen: Nachrichten auswählen und bewerten, Zusammenhänge erstellen, Zusatzinformationen und Service-Angebote finden, dafür sorgen, dass Techniker, Infografiker und Layouter dem Nutzer den Konsum des Dargebotenen angenehmer machen, ihm die Möglichkeit zur Vertiefung bieten, kurz: Mehrwert schaffen. Und zwar flott.

Er wird ein Technikbündel bleiben, der Online-Journalist, jedoch ein entspannteres: Sein Redaktionssystem wird irgendwann so funktionieren wie seit Jahren von den Dienstleistern versprochen. Die Übertragung von Daten wird kein Vermögen mehr kosten und ohne Informatik-Studium gelingen. Die Digi cam wird handlicher, die Berichterstattung vom Länderspiel ein Klacks und die Freude beim Nutzer eine verlässlich vermarktbare Konstante. Könnte nur sein, dass bis dahin der Bundestrainer ein paar Mal wechselt.

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