Das Internet (8):Freiheit, die wir meinten

Das Netz wird sein Demokratieversprechen nicht einlösen. Das Freiheitsversprechen ist keinen Bit näher gerückt.

Sonja Zekri

(SZ vom 21.12.2002) - Sie nennen sie die "Große Brandmauer" und beobachten misstrauisch jeden neuen digitalen Ziegel, mit dem Chinas Regierung die Zumutungen der westlichen Welt aussperren will. Sie schlagen Löcher in Chinas virtuelles Zensur-Bauwerk - und zahlen dafür mit dem Leben. 33 chinesische Cyberdissidenten sitzen nach Angaben von Amnesty International derzeit in Haft, drei starben im Gefängnis, zwei davon offenbar an Folter und Misshandlung. Menschen wie die 22-jährige Liu Di gehören zu diesen neuen politischen Gefangenen, eine Psychologie-Studentin, die unter dem Pseudonym "Stainless Steel Mouse" als Stahl-Maus im Internet dazu aufrief, "die Regierungspropaganda zu ignorieren", und kurz nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Hu Jintao eingesperrt wurde.

In einer Serie durchstreifen wir das Internet, erzählen, wie es wurde, was es ist, und was aus ihm werden könnte. Heute geht es um das enttäuschte Demokratieversprechen.

Dass Menschen wegen eines verdächtigen Mausklicks, einer offenherzigen E-Mail, eines Gesprächsforums ihr Leben lassen müssen, dass das weltweite Netz, elektronische Post oder virtuelle Debatten auch heute noch nicht immer zur Freiheit, sondern oft aufs Schafott führen, das ist die wohl bitterste Enttäuschung in der an Enttäuschungen reichen Geschichte des Netzes.

In der Ukraine wurde Georgi Gongadse, Chefredakteur der Internet-Zeitung Ukrainskaja Prawda, vor zwei Jahren bei Kiew enthauptet in einem Graben aufgefunden. Er hatte über Korruption in Regierungskreisen recherchiert. Zouhair "Ettounsi" Yahyaoui, Gründer der tunesischen Netzzeitung Tunezine, sitzt seit Monaten im Gefängnis. Vietnam, Nordkorea, Kuba, Kasachstan - wo die Regime das freie Wort fürchten, fürchten sie auch das Netz. Kein anderes Land aber beweist so niederschmetternd wie China, dass sich emanzipatorische Hoffnungen von ökonomischen Erfolgen sauber trennen lassen. Während die kommunistische Führung die Wandlung zur High-Tech-Nation voranpeitscht, von Wachstumsrekorden träumt, während im chinesischen Silicon Valley am eigenen Linux-basierten Betriebssystem "Rote Fahne" gebastelt wird, um "Windows" zu ersetzen, hat sich der eiserne Griff der Zensoren keine Sekunde gelockert, seit das Reich der Mitte vor sieben Jahren ans Netz ging. Im Gegenteil.

Gewiss, die Dissidenten finden im Netz Informationen und Gleichgesinnte. Verschwiegene Aids-Opfer, die nichts mehr zu verlieren haben, bringen hier ihr Leid an die Öffentlichkeit, Korruption wird im Cyberspace angeprangert, weshalb die "Verbreitung von Staatsgesetzen" via Internet unter Todesstrafe steht. Doch Chinas Zensurgesetze werden mit jedem Jahr schärfer, ihre Durchführung technisch raffinierter, schwerer zu umgehen und teurer. Nach einem Brand in einem Internet-Cafe hat die Regierung 17.000 Internet-Cafés geschlossen, 28.000 wurden gezwungen, regierungseigene Filtersoftware einzubauen. Regierungseigene Verkehrspolizisten, die "big mamas", überwachen die chinesischen Provider. Und kurz vor dem Kongress der Kommunistischen Partei im November war die Suchmaschine Google aus China nicht zu erreichen; 50 Millionen Nutzer wurden auf ein halbes Dutzend chinesischer Suchmaschinen umgeleitet: "In ihren Gegenmaßnahmen greift die chinesische Regierung auf High-Tech-Lösungen zurück, darunter die Blockade von Webseiten, das Überwachen und Filtern von E-Mails, Zugangsverweigerung, Betrug, Desinformation und sogar das Hacken von Dissidenten-Webseiten oder Seiten der Falungong-Sekte", heißt es in einer Studie des amerikanischen Rand-Instituts.

Dabei wirkt die Auswahl gefürchteter Inhalte seltsam willkürlich, fanden Jonathan Zittrain und Benjamin Edelman von der Harvard Law School heraus: Dass man auf Informationen aus Taiwan und Tibet gern verzichtet, scheint logisch. Aber was hat Chinas KP gegen die "Jewish Federation of Winnipeg's Internet Home" oder Science-Fiction-Fan-Clubs? Warum blockiert China weit mehr Webseiten als etwa Saudi-Arabien, aber nur einen Bruchteil der gängigen Pornoseiten? Offenbar, so ein Beobachter, wache Saudi-Arabien über islamische Werte, während Chinas Generalverdacht gegenüber Demokratiebestrebungen den Fokus der Zensoren weitet. Die Brandmauer-Erbauer bekommen Hilfe vom Klassenfeind: Amnesty kritisierte jüngst, dass amerikanische Firmen wie Sun Cisco, Nortel Networks und Microsoft Peking mit Repressionsequipment beliefern. Andererseits plädierte der republikanische Abgeordnete Christopher Cox für die Schaffung eines "Office of Global Internet Freedom", um die chinesische Zensur amerikanischer Seiten, etwa der von Voice of America, zu unterlaufen.

Die Baulücke am Ground Zero wird in absehbarer Zeit geschlossen, die demokratischen Kollateralschäden aber sind im Internet zu besichtigen. Das US- Verteidigungsministerium bastelt mit dem "Total Awareness Project" an der Generalüberwachung allen privaten Datenverkehrs vom Telefonanruf bis zur Webseite - im Namen des Antiterrorkampfes.

Und innen drin im Cyberspace, im vermeintlich staatenlosen, grenzenlosen Cyberspace? Dort hat Icann, die Verwaltung von Namen und Nummern, längst alle Hoffnungen auf Partizipation zunichte gemacht: Die euphorisch gefeierte globale Online-Wahl einiger ihrer Direktoren wird nicht wiederholt, und die globale Nutzergemeinde kann nur noch ein beratendes Gremium entsenden, das "At Large Advisory Committee". Die Regierungen, vor allem natürlich die US- Regierung, erhalten künftig mehr Macht in der Internet-Behörde, die auch Länder-Endungen wie ".de" kontrolliert und damit raschen Zugriff auf Informationen über Internetkontakte oder -zugänge hat. Dass kurz nach dem 11. September Seiten mit der Endung ".af" für Afghanistan unerreichbar waren, mochte ein technischer Defekt gewesen sein. Doch er gibt einen Vorgeschmack darauf, wie es sich künftig nach US-Sitte surfen lassen wird: Die Seiten wurden über amerikanische Server angesteuert.

Der schärfste Zensor aber ist nach wie vor die Armut: Achtzig Prozent der Weltbevölkerung haben noch nicht einmal Telefon. Telearbeit, Telelearning und Telemedizin bleiben Spielereien einer privilegierten Minderheit. Die digitale Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd, wird sich so bald nicht schließen. Das Freiheitsversprechen ist keinen Bit näher gerückt. Das Internet wird auch in Zukunft keinen Tyrannen stürzen. Aber es wird ihn vielleicht reicher machen.

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