Computerspiele:Google soll Zocker-Plattform Twitch gekauft haben

Twitch KayPeaLol

Twitch-Userin "KayPeaLol" in Aktion

(Foto: Screenshot: twitch.tv/kaypealol)

Wie ein Videochat mit Manuel Neuer: Eine der beliebtesten Seiten im Internet zeigt Videospieler beim Zocken. Das weckt das Interesse der Großen im Silicon Valley. Die Plattform Twitch soll Google eine Milliarde US-Dollar wert sein.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wer als Kind einen Game Boy oder einen Commodore C64 mit seinem älteren Bruder teilen musste, der weiß: Es gibt kaum etwas Öderes, als einem anderen Menschen beim Computerspielen zuzusehen.

Wie der Glückliche an der Konsole mit Mario über Hindernisse hüpft, herunterfallende Tetris-Blöcke richtig einordnet oder einen Rekord bei den Olympischen Winterspielen aufstellt - das ist selbst für viele Menschen, die gerne zocken, ungefähr so interessant wie die Weltmeisterschaft im Kaugummikauen. Eine Plattform zu betreiben, auf der sich Computerspieler selbst filmen und ihre Partien live ins Internet übertragen, klingt deshalb als Geschäftsidee zunächst einmal so vielversprechend wie eine Eisdiele in der Antarktis. Könnte man meinen.

Nur: Es gibt diese Plattform bereits seit drei Jahren. Sie heißt Twitch und ist eine der beliebtesten Webseiten derzeit - auch, weil Microsoft und Sony in ihre jeweilige neue Konsolengeneration Zugänge zu dem Videospiel-Streaming-Dienst eingebaut haben. Den besuchen etwa 50 Millionen Menschen pro Monat, am Tag bleiben sie durchschnittlich beinahe zwei Stunden auf der Seite. Sie sind dafür verantwortlich, dass knapp zwei Prozent der gesamten Datenlast im amerikanischen Internet mittlerweile von Twitch verursacht wird. Damit gehört die Seite einer Studie des Marktforschungsinstituts Sandvine zufolge zu denen, die für den meisten Online-Verkehr verantwortlich sind - hinter den ganz Großen wie Netflix, Apple und Google.

Nun heißt es aus Branchenkreisen, dass die Google-Tochterfirma Youtube das Unternehmen übernommen hat. Kolportierter Kaufpreis: eine Milliarde US-Dollar in bar. Das Technikportal Venturebeat berichtet vom Abschluss der Verhandlungen, die seit Mai laufen sollen.

Bislang wollten Google und Twitch weder Kauf noch Summe bestätigen, es gibt aber auch kein Dementi. Erst vor wenigen Wochen hatte es frische Spekulationen über einen Zukauf durch Google gegeben, als Twitch die Applikation Live Annotations for Youtube vorgestellt hatte. Sie teilt den Zuschauern eines Youtube-Kanals mit, wenn der Produzent gerade live bei Twitch aktiv ist. Mit einem Mausklick gelangt der Zuseher dann von Youtube zu Twitch. Für Google wäre Twitch der zweitteuerste Zukauf einer Videoplattform - nur Youtube selbst kostete 2006 noch mehr: 1,65 Milliarden Dollar.

"Eigentlich haben wir anderen Menschen beim Computerspielen zugesehen, seit diese erfunden wurden", erklärt Twitch-Gründer Emmett Shear die etwas seltsam anmutende Faszination. "Früher standen wir in den Spielhallen und haben mehr Zeit damit verbracht, anderen Kindern beim Pac-Man-Zocken zuzusehen als selbst zu spielen. Das lag daran, dass es damals nicht so viele Spiele gab." Mittlerweile gibt es viele Spiele, es gibt viele Spieler - und gibt Millionen von Menschen, die sich dafür interessieren.

Der Computersport ist längst im Mainstream angekommen, die besten Akteure bekommen von der amerikanischen Regierung seit wenigen Monaten ein Visum, das ausschließlich Sportlern vorbehalten ist. Sie können auch deshalb von ihren Fähigkeiten leben, weil es zahlreiche Fans gibt, die den Twitch-Kanal eines begabten Computerathleten für fünf Dollar pro Monat abonnieren. Zudem sind die Protagonisten an den Einnahmen der Werbevideos beteiligt, die vor den Übertragungen gezeigt werden, und an den Umsätzen durch Werbebanner, die während der Partien neben dem Bildschirm auftauchen.

Chatten mit den Könnern

"Hallo Freunde, danke fürs Zuschauen", sagt etwa die junge Frau zu Beginn einer Runde des Online-Spiels "League of Legends". Mehr als 15.000 Menschen sehen gerade zu. Sie nennt sich KP und sieht ein wenig aus wie eine Mischung aus der Rock-Sängerin Avril Lavigne und der virtuellen Heldin Lara Croft. Während KP spielt, erklärt sie nicht nur ihre Taktik, sondern unterhält sich mit ihren Anhängern über die kniffligen Aspekte des Spiels und manchmal auch über private Dinge. Alle zehn Sekunden lächelt sie verlegen und bedankt sich, weil wieder mal einer geschrieben hat, wie hübsch er sie findet. Ihrem Kanal KayPeaLoL folgen mehr als 80.000 Menschen.

Twitch ermöglicht es Fans von Computerspielen, mit den Könnern einer Disziplin direkt in Kontakt zu treten, sich mit ihnen zu unterhalten, sie um Rat zu fragen. Für die Gaming-Szene ist das, was für einen Fußballfan eine direkte Verbindung zu Manuel Neuer wäre: mit dem Idol videochatten, ihm beim Torwarttraining zusehen oder ein paar Tipps für den nächsten eigenen Elfmeter in der Kreisliga bekommen. Darin besteht der Reiz der Plattform: Die Übertragungen sind eine Mischung aus Sportberichterstattung, Talkshow und Stammtisch. Gezeigt werden nicht nur die bedeutenden E-Sport-Partien, bei denen sich die besten Akteure der Welt in Spielen wie "Hearthstone: Heroes of Warcraft", "Dota 2" oder "Fifa14" duellieren. Auf ihren eigenen Kanälen filmen sich die Spieler auch selbst beim Zocken und unterhalten sich mit ihren Fans.

Es sind jedoch nicht unbedingt die Partien der Spitzensportler, die für die besten Einschaltquoten sorgen. Auch die Kanäle von Hobbyspielern sind beliebt, wenn sie denn unterhaltsam genug sind. Es kann in der Tat recht kurzweilig sein, wenn ein Zocker in Gedichtform erklärt, warum er im Ballerspiel "Counter-Strike" schon wieder getötet wurde. Auch der Baseballstar Hunter Pence von den San Francisco Giants hat einen eigenen Kanal eröffnet. Mehr als 350.000 Menschen haben seine Hobbypartien in "League of Legends" gesehen: "Ich bin nicht wirklich gut wie einige der genialen Jungs, aber es macht Spaß."

Branchenkenner sind sich einig, dass Twitch geschafft hat, woran in den vergangenen Jahren nicht wenige gescheitert sind: Die Plattform hat einen Weg gefunden, Computersport attraktiv darzustellen. Sie verbindet den Live-Charakter von Sportereignissen mit den Funktionen von sozialen Netzwerken wie Twitter und Instagram. Kein Wunder, dass sich mittlerweile die großen Silicon-Valley-Unternehmen für Twitch interessieren, auch Microsoft soll an einer Übernahme interessiert gewesen sein. Doch offenbar gehört die Zocker-Seite nun zu Youtube und damit zu Google. Der Konzern hat nun wohl Zutritt zu der boomenden Szene und die Chance, pro Tag ein Publikum in der Dimension sportlicher Großereignisse wie dem WM-Finale oder der Super Bowl zu erreichen.

Die Twitch-Nutzer indes betrachten den möglichen Einstieg von Google nicht ohne Sorgen. Die meisten Spielehersteller nämlich erlauben die Übertragungen von Partien ausdrücklich für nicht-kommerzielle Zwecke. Spätestens bei einer Beteiligung von Google wäre klar: Hier wird Geld verdient - und bestimmt nicht wenig, sonst wäre Google ja nicht dabei. Viele Spieler lassen im Hintergrund Musik laufen, an der sie womöglich keine Rechte haben. Youtube-Promi Michelle Phan wurde deshalb von dem Label Ultra Records auf Zahlung von 7,5 Millionen US-Dollar verklagt. Ähnliche Klagen könnten künftig auf die Twitch-Stars zukommen. Es könnte sein, dass die Entwickler beliebter Computersport-Disziplinen oder Musiklabels etwas von dem Kuchen abhaben wollen, der immer größer wird.

Anscheinend kann es doch recht aufregend sein, einem anderen Menschen beim Computerspielen zuzusehen.

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