Computerspiel "Tacoma":Eine Raumstation voller Gespenster

Tacoma

Von den Mitgliedern der nun verlassenen Raumstation sind nur noch Spuren, Müll und ihre holografischen Schatten übrig.

(Foto: fullbright)

In "Tacoma" muss der Spieler herausfinden, was an Bord passiert ist. Die richtigen Abenteuer beginnen erst, wenn er die Pausentaste drückt.

Von Philipp Bovermann

Wer so etwas doof findet, bezeichnet Computerspiele wie "Tacoma" als "Walking-Simulatoren". Das heißt: Man erschießt darin keine Nazis, erbaut keine Reiche, schubst noch nicht mal Bälle durch farbige Ringe. Der Spieler tut hier nichts weiter, als in der Ich-Perspektive eine menschenleere Umgebung zu erkunden, um so allmählich eine Geschichte zu enträtseln, die dort verborgen liegt.

Es sind gewissermaßen Filme zum Nachspielen, unter der Voraussetzung, dass die Handlung beim Eintreffen des Spielers schon vorbei ist und nur noch die Spuren davon übrig geblieben sind. Meist sind das verstreute Schriftstücke und Aufzeichnungen, dazwischen gibt es viel gespenstische Leere.

In "Tacoma" wartet hinter der Leere auch noch der Weltraum. An Bord der titelgebenden Raumstation hat sich ein Unglück ereignet. Die sechsköpfige Crew ist verschollen, eine künstliche Intelligenz mit Namen Odin ("Obsidian-Class AI") ist offline. Wir sollen nun deren Hardware bergen und runterladen, denn sie ist offenbar teuer. In den Gängen der Station blinken noch die Lichter. Das Sauerstofflevel an Bord ist niedrig. Im schwerkraftlosen Bereich hinter der Andock-Station schwebt uns ein einsamer Basketball entgegen.

Wieder einmal hat sich also der Mensch, weit entfernt von seinem natürlichen Habitat, auf Gedeih und Verderb - wohl eher auf Verderb - in die Hände eines Supercomputers begeben. Worauf zahlreiche Science-Fiction-Erzählungen zusteuern, ist hier offenbar bereits geschehen. Die Erzählung (und die Handlung) erfolgt demnach in umgekehrter Richtung: Der Spieler greift auf die noch erhaltenen holografischen Aufzeichnungen der Besatzung zu, die dann plötzlich als gespenstische, farbig leuchtende Schemen wieder die verlassene Station bevölkern. Innerhalb der Aufzeichnungen kann der Spieler hin- und herspulen, was gut ist, denn meistens geschehen mehrere Dinge parallel an verschiedenen Orten. Sie werden allmählich in ihren Zusammenhängen verständlich.

Der Unglück ereignete sich am "Überflüssigkeits-Tag", den die Besatzung nach Anweisung feierte

Der Fokus liegt also auf den Figuren und ihren persönlichen Geschichten. Beim zweiten Durchlauf enthüllt sich, dass die Bordärztin während einer Besprechung der Gruppe nebenan im Gemüsegarten stand und mühsam eine Panikattacke bekämpfte. Wir durchstöbern Kabinen, öffnen Schubladen und finden persönliche Notizen im Papierkorb.

Derweil spielt der Bewohner als holografischer Schatten auf der Gitarre, die jetzt verlassen neben dem Bett steht. So füllen sich die gesichtslosen Lichthaufen allmählich mit Leben: Clive Siddiqi hieß der Mann, er stammte aus London und hatte eine Affäre mit der Kommandantin, die er "mon capitan" nannte, weil, wie wir in einem Buch auf seinem Computer finden, so etwas bei Vorgesetzten gut ankommt.

Als inszenatorischer Kniff ist das ziemlich clever, denn wir spielen sozusagen gegen die Unmenschlichkeit eines Ortes, an dem der Mensch ohne künstliche Hilfe nicht atmen kann, an dem er nur als ein lästiger Kostenfaktor gilt. Der besagte Unfall ereignet sich während der Feier des "Obscolescence Day", am "Überflüssigkeits-Tag" also, an dem die Besatzung der Raumstation den Umstand feiert, ein weiteres Jahr nicht durch Computer und Roboter ersetzt worden zu sein. "Odin" liefert die Rezepte für das Festessen, die Menschen kochen auf seine Anweisungen.

Wenn die Erzählung dann weitergeht, fühlt es sich jedes Mal an, als erlöse man Gespenster

Das ist die große Leere, um die es hier im Kern geht. Sie war schon in Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" aus dem Jahr 1968 zu spüren. In dem Film joggt ein Pilot, evolutionär überholt und nur noch biologische Staffage, sinnlos an den Wänden eines kreisförmigen Raums entlang, wie ein Hamster im Rad, um irgendwie die Zeit totzuschlagen. "Tacoma" macht keinen Hehl aus seinen Parallelen zu diesem Scifi-Klassiker.

Es beginnt zunächst als Horrorgeschichte, wie schon sein Vorgänger "Gone Home".

In diesem Spiel von 2013 betritt der Spieler in Gestalt einer jungen Frau das Haus ihrer Eltern, aber es ist niemand zu Hause, nur ein Zettel der Schwester hängt an der Haustür: Man solle nicht nach ihr suchen. Das tut man natürlich jetzt erst recht. Dabei löst sich nicht nur das Rätsel, was hier geschehen ist, sondern man taucht auch in die Geheimnisse der Familie ein. Beide Spiele wurden von einem kleinen Team namens Fullbright aus Portland, Oregon, entwickelt. "Gone Home" kam gut an. Auch deshalb, weil schon damals die Welten von Computerspielen immer prächtiger ausgestattet und größer, aber in vielen Fällen auch immer trostloser und langweiliger wurden.

Ein Haus, das ist in den Games oft nicht mehr als ein geometrisches Gebilde mit Texturen als Fassade, ein paar Möbeln und Bewohnern als Dekoration. Spiele wie "Gone Home" oder "Tacoma" gehen in die andere Richtung und setzen auf erzählerische Konzentration statt auf Ausweitung der Spielfläche.

Selbst hartgesottene Zocker sprachen von "interaktiver Poesie"

Den Auftakt zu diesem Subgenre der Adventure Games, in dem das Lösen von Rätseln kaum noch eine Rolle spielt, bildete "Dear Esther", das zunächst 2008 als Modifikation von "Half Life 2", dann 2012 als eigenständiger Titel erschienen ist. Es war eine gefühlvolle Erkundungstour durch die Erinnerungen eines Mannes an seine verstorbene Frau. Selbst hartgesottene Zocker sprachen damals von "interaktiver Poesie".

Ganz kann "Tacoma" nun an "Gone Home" nicht anknüpfen. Man spürt, dass die Entwickler sich erzählerisch im bodenständigen Kreis einer Familie und ihrer Geheimnisse wohler fühlten, das Scifi-Szenario wirkt nur halbherzig ausgedacht. Außerdem hängen die verschiedenen Informationsteile so zusammen, dass wirklich, wirklich, wirklich jeder auf Anhieb versteht, worum es hier geht. Wer gern Detektiv spielt, fühlt sich also eventuell unterfordert. Aber "Tacoma" funktioniert sowieso in einer entscheidenden Hinsicht anders als klassische Games.

Dort hält man bisweilen das Geschehen an, um kurz Luft zu holen. In "Tacoma" hingegen befinden wir uns sozusagen standardmäßig im Pausenmodus. Erst wenn wir die Leertaste drücken und die erstarrten holografischen Projektionen sich in Bewegung setzen, geht die Erzählung weiter. Es fühlt sich jedes Mal an, als erlöse man Gespenster.

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