Cebit:Auch der Staat muss digitalisiert werden

Mit Kanzlerinnenpodcast und ein bisschen Social Media ist kein moderner Staat zu machen. Das merkt endlich auch die Politik, die immer noch zu analog arbeitet.

Gastbeitrag von Christoph Bornschein und Tom J. Gensicke

Die digitale Transformation ist da", das ist das Motto der am Montag beginnenden Cebit. Die Aussage ist eindeutig: kein Was-wäre-wenn-Szenario, keine Zukunftsmusik. Wir sind mittendrin. Entsprechend deutlich werden die dort vorgestellten Strategien, Technologien und Konzepte Zeugnis davon ablegen, dass die Zeiten des Man-könnte-vielleicht für die deutsche und europäische Wirtschaft endgültig vorbei sind. Und die Politik, der die Industrie 4.0, Arbeit 4.0 und intelligente Vernetzung längst mehr als wichtige Profilierungsthemen sind, wird vor Ort sein und vorstellen, wie sie Digitalisierung treiben will. Als Befähiger, Förderer, wohlwollender Beobachter.

Klingt gut? Ist aber zum Verzweifeln.

Denn bislang ist Digitalisierung dem deutschen Staat immer die Digitalisierung der anderen. Auch andersherum gilt: Der Staat wird nicht als Teil der digitalen Welt wahrgenommen. Das digitale Angebot staatlicher Institutionen beschränkt sich fast ausschließlich auf Kommunikationsmaßnahmen. Doch mit einem Kanzlerinnenpodcast und einem Social-Media-Team ist noch kein digitaler Staat zu machen.

Im Gegenteil: Die digitale Kommunikation erhöht die Fallhöhe zu dem anderen, dem echten Staat, mit dem der Bürger verbindlich und hochoffiziell interagiert. Denn dort erwarten ihn analoge Registratur, vielerlei Formulare, undurchsichtige Kompetenzbereiche, komplexe Regelwerke. Wenn er denn - schönen Gruß aus Berlin - überhaupt einen Termin bekommt.

Die moderne Verwaltung ist ein Anachronismus. Das vor 200 Jahren reformierte preußische Verwaltungssystem war zu seiner Zeit ohne Vorbild - und ist zu Recht zum Vorbild geworden. Es gab Antworten auf die drängenden Fragen seiner Zeit. Seine ursprünglich auf die Landwirtschaft gemünzten Veränderungen und Vereinfachungen lieferten die Grundlagen für die Erfolge der industriellen Revolution in Preußen.

Ziel muss sein: Keine Reibungsverluste und individuelle Angebote

Nur leider ruhen wir uns heute auf diesem System aus, als ginge es aktuell nur um den nächsten Schritt auf dem Weg von der Schreibfeder zum PDF. Doch weltweit entstehen neue Branchen, werden Industrien obsolet, wachsen Generationen heran, für die der Begriff der Digitalisierung selbst ein Anachronismus ist, weil es für sie nie eine nicht-digitale Welt gegeben hat. Und doch sehen sie sich spätestens mit 18 den letzten Vertretern dieser nicht-digitalen Welt gegenüber, die ihnen den Weg zur staatlichen Teilhabe versperren und nur nach ihren eigenen Regeln spielen.

Wo der Staat heute aktiv und koordiniert vorbildhafte Grundlagen, Prozesse und Strukturen der digitalen Gesellschaft von morgen schaffen müsste, entwickeln im besten Fall einzelne Verwaltungen individuelle Lösungen oder improvisierte Angebote.

Es gibt keine digitale Wirtschaft in einem analogen Staat

Sie sagen: "Wir haben verstanden", ohne zu ergänzen " . . . und packen es an". Was leicht vergessen wird: Es gibt keine digitale Wirtschaft in einem analogen Staat. Einem, der digitale Transformation und Industrie 4.0 beschwört, bewirbt und fördert. Einem Staat der Gründerfonds, der spannenden Konferenzen, der augenöffnenden Thesenpapiere. Einem Staat, dessen konkretes Handeln aber kaum etwas mit dem von ihm angeregten Diskurs zu tun hat. Dem es in seiner unmittelbarsten Zuständigkeit grundsätzlich an Reformwillen und Handlungsfähigkeit fehlt. Hier wurde bislang noch nicht realisiert, dass "Industrie 4.0" auch das eigene Verständnis und die eigenen Fähigkeiten betrifft und Lösungen fordert. Einer modernen Industrie, die die Potenziale digitaler Transformation realisieren soll, ist ein Staat der analogen Anträge, langen Wege und haushohen Teilhabevoraussetzungen ein schlechter Partner.

Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen hat praktisch immer mit Servicegedanken zu tun: leichtere Anwendung, Vermeidung von Reibungsverlusten, Individualisierung von Angeboten. Und auch Verwaltung muss als Service gedacht werden, nicht als Zugeständnis. Das ist nicht so banal, wie es zunächst klingt.

Cebit: Illustration: Sead Mujic

Illustration: Sead Mujic

Egal, ob Gründerin, Auszubildende, Angestellter, Managerin, Kindergartenkind, Arbeitssuchende oder Selbstständiger: Der Staat macht seinen Teilhabern viele Angebote. Aber er versteckt sie gern und gibt sie nur auf ausdrücklichen, wiederholt vorgetragenen Wunsch heraus - egal, ob Arbeitslosengeld, Elterngeld oder Gründerzuschuss. Eine verwaltungstechnische Automatisierung oder gar die proaktive Gewährung von Ansprüchen ist nur selten Teil des Konzepts "Verwaltung in Deutschland".

So sieht sich, wer in Deutschland eine Firma gründen und mit Geld ausstatten will, vielen Ansprechpartnern und Anspruchstellern gegenüber, die offenbar testen wollen, ob es ihm wirklich ernst ist. Aus der Position heraus, nicht blind drauflosalimentieren zu wollen, werden staatliche Zuwendungen wie großmütige Zugeständnisse behandelt - nicht wie die Serviceleistungen, die sie per Gesetz sein sollten. Im Umgang mit der Herausforderung der Digitalisierung ist das natürlich eine bequeme Position: Je mehr Subprozesse und Beteiligte an einem beliebigen Antrag hängen, desto schwieriger ist es, ihn durch Software und digitale Schnittstellen zu ersetzen.

Digitalisierung kann also nicht ohne Kulturwandel funktionieren. Unverzichtbar ist vor allem eine langfristig und umfassend orientierte Herangehensweise, die die heutige Drei-Komponenten-Strategie (Blockade, Insellösungen, Effizienzoptimierung) der Digitalisierung ablöst. Drei Beispiele:

Blockade: Drei junge Entwickler bauen in Berlin eine Plattform, die per Algorithmus kurzfristig freigewordene Bürgeramtstermine findet und sie zahlenden Kunden vermittelt, die nun nicht mehr in der Hoffnung, einen Termin zu finden, die offiziellen Seiten überwachen müssen. Reaktion der Politik: die Forderung unter anderem nach technischen Maßnahmen, die "automatisierte Terminblockierungen" verhindern. Nicht gefordert: die Entwicklung eines eigenen Automatisierungskonzepts, womöglich aufbauend auf der umstrittenen Plattform.

Insellösungen: Die E-Services der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass ein Bedarf erkannt und eigene Lösungen entwickelt wurden. Doch dieses digitale Angebot unterscheidet sich klar von den Angeboten anderer Behörden und ist damit nur ein Element einer fragmentierten Digitallandschaft vieler unterschiedlicher Ansätze, Zugänge und Umsetzungstiefen. Von den klassisch-analogen Amtsvorgängen hinter der digitalen Oberfläche ganz zu schweigen.

Effizienzoptimierung: Digitale Buchungstools und Formulararchive sparen Amtszeit, weil sie Aufwände an Bürgerinnen weitergeben, die nun in der Hoffnung, einen Termin zu finden, die offiziellen Seiten überwachen müssen. Resultat: Frust wird nur verlagert, nicht vermieden. Wenn es da doch nur einen Algorithmus gäbe.

Eine erfolgreiche digitale Reform der deutschen Verwaltung ist schlicht nicht möglich, wenn Verstand und Ressourcen durch Gegensteuern, Harmonisierung von Insellösungen und Frustmanagement gebunden sind. Eine erfolgreiche digitale Reform braucht eine Koordination von oben, durch eine Regierung mit klar formulierten und überprüfbaren Zielen und Ansprüchen.

Wir müssen weg vom "Wie kann man das noch günstiger machen?"

Viel dringender aber braucht sie den Perspektivwechsel: Weg vom intern getriebenen "Wie kann man das noch günstiger machen?", hin zu den Bedürfnissen der Nutzer: Wie kann man den Zugang zur öffentlichen Verwaltung möglichst unkompliziert verfügbar machen, wie kann die öffentliche Verwaltung zu einem natürlichen Teil des Lebens, Erlebens und des Nutzungsverhaltens moderner Menschen werden?

Drei Thesen

Blockade: Die Politik legt den Erfindern Steine in den Weg

Insellösung: Jede Behörde geht ihren eigenen Weg

Effizienzoptimierung: Frust wird nur verlagert, nicht vermieden

Vorbilder sind Israel, Großbritannien, Estland, Neuseeland und Südkorea

Das Wettbewerbspotenzial der Digitalisierung ist in der Wirtschaft weitgehend erkannt. Doch auch eine digitalisierte, barrierefreie, serviceorientierte Verwaltung wird ein entscheidender Wettbewerbsfaktor sein. Wir haben schon erörtert, dass es ohne einen digitalen Staat keine digitale Wirtschaft in Deutschland geben kann. Aber gehen wir noch einen Schritt weiter: Ohne einen digitalen Staat und eine adäquat aufgestellte Verwaltung wird es diese digitale Wirtschaft eben woanders geben.

Im Jahr 2014 etwa haben sich Großbritannien, Israel, Estland, Neuseeland und Südkorea zu den Digital 5 zusammengetan, einem Staatennetzwerk, das gemeinsam die digitale Transformation seiner Mitglieder fördern und beschleunigen will. Neben vielen wirtschaftsorientierten Maßnahmen, die so und ähnlich auch hierzulande verhandelt werden, sind internationale Kooperation und der Umbau von Staat und Verwaltung essenzielle Komponenten der D-5-Charta.

Die Erklärung der Teilnehmerländer ist nicht weniger als eine Kampfansage. Und auch wenn sich die D 5 nach dieser vollmundigen Erklärung an Ergebnissen messen lassen müssen: Was, wenn diese Ergebnisse hervorragend sind?

"Die digitale Transformation ist da" bedeutet eben nicht, dass der Wandel vollzogen ist. Es bedeutet, dass er jetzt stattfindet, sehr präsent und unausweichlich. Er lässt sich nicht mehr bremsen, aber sehr wohl lenken und konstruktiv begleiten. Der Public Sector Parc der Cebit zeigt den Anspruch und tragfähige Ansätze dafür, diese Aufgabe einer digitalen Verwaltung anzuvertrauen. Hier denken einzelne Bereiche des öffentlichen Sektors über Service, Sicherheit und Vernetzung nicht nur nach, sondern initiieren innovative Projekte.

Aber ja: einzelne Bereiche. Wir brauchen mehr als das. Denn selbst, wenn wir heute beginnen, koordiniert, informiert und umfassend die digitale Reform des deutschen Verwaltungssystems voranzutreiben, werden wir Jahre brauchen, um ein System zu entwickeln, das nicht nur den Ansprüchen von heute genügt, sondern langfristig flexibel und anpassungsfähig ist.

Was wir brauchen, ist ein grundlegend neues Verwaltungssystem. Eines ohne Vorbild; eines, das das Zeug dazu hat, zum Vorbild zu werden. Das Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit gibt und den aktuellen Bedarf, das aktuelle Potenzial als Auftrag sieht.

Wir brauchen einen Staat, der sich bei "Die digitale Transformation ist da" an der Ehre gepackt fühlt, Verantwortung übernimmt, anpackt und reformiert. Entschlossen und in allen Bereichen.

Christoph Bornschein ist Gründer und Geschäftsführer der Agentur für digitale Transformation TLGG. Tom J. Gensicke berät seit 20 Jahren die öffentliche Verwaltung, er leitet den Bereich Public bei Capgemini Consulting.

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