Bürgerjournalismus im Netz:"Realität, die nicht verschwindet"

Früher hat man Amateurjournalisten belächelt. Doch das Internet verleiht den Laien mehr Möglichkeiten und größeren Einfluss.

Thomas Schuler

Frederik Pleitgen berichtet seit Januar 2007 für CNN International aus Deutschland und Europa. Vor einem Jahr schickte ihn die Zentrale des Nachrichtensenders in Atlanta nach Griechenland, um über Waldbrände zu drehen. Er filmte auf dem Peloponnes; die Redaktion ergänzte den Beitrag mit Bildern aus Athen. Dort hatte nämlich ein Bürger gefilmt, wie sich eine Feuerwalze auf die Stadt zubewegt und diese Bilder auf die Website iReport.com gestellt.

Bürgerjournalismus im Netz: iReport.com: unredigierte und ungefilterte Nachrichten

iReport.com: unredigierte und ungefilterte Nachrichten

(Foto: Screenshot: sueddeutsche.de)

CNN nutze solche Amateuraufnahmen täglich, heißt es in Atlanta. Pleitgen sagt, er habe in Berlin ständig zehn Websites aufgerufen, 20 bis 30 mal täglich sei er auf Spiegel.de. Aber zwei- bis dreimal gehe er auch auf iReport.com, wo Zuschauer ihre Filme zur Verfügung stellen. Was könnte er verwenden?

Pleitgen studierte Journalismus bei Jay Rosen an der New York University. Rosen gilt als einer der maßgeblichen Verfechter eines Bürgerjournalismus. Vor 15 Jahren verstand er unter Public oder Civic Journalism das Bemühen von Journalisten, Interessen der Leser stärker zu beachten. Rosen wollte mehr auf die Anliegen der Bürger eingehen. Journalismus sollte nicht nur über Probleme berichten, sondern auch Lösungen bieten.

Zwischen Modeerscheinung und Marketingmaßnahme

Journalismus sollte demokratischer werden. In Dutzenden Städten befragten Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen Bürger, berichteten über Probleme in Schulen, Krankenhäusern und Verwaltungen und suchten nach Lösungen.

Die New York Times und andere große Zeitungen fühlten sich jedoch nie wohl mit Public Journalism. Sie sahen Bürgerjournalismus als Modeerscheinung und Marketingmaßnahme, um Leser und Zuschauer zu binden. David Remnick, der Chefredakteur des New Yorker, argumentierte: Voraussetzung für großartigen Journalismus sei eine gut informierte, aggressive Skepsis gegenüber den Vorurteilen und Normen einer Gesellschaft.

Man müsse Bürgern zuhören und wenn nötig, ihre Meinung in Frage stellen. Warum, fragte Remnick, sollte man diese journalistische Tradition aufgeben? Verfechter und Gegner von Bürgerjournalismus streiten seitdem, ob er Fort- oder Rückschritt darstellt. Nutzt oder schadet Bürgerjournalismus dem Journalismus und der Mediendemokratie?

Früher bedeutete Bürgerjournalismus, dass Journalisten mehr auf Bürger hören, heute dagegen, dass jeder Bürger Journalist spielen kann. Geändert hat sich seine Bedeutung. Früher hat man die Amateurjournalisten der Offenen Kanäle und Bürgerradios belächelt. Sie waren harmlos. Das Internet verlieh den Amateuren mehr Möglichkeiten und mehr Einfluss. Heute betrachten Profis Handyfotografen mit gemischten Gefühlen.

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"Realität, die nicht verschwindet"

Als die Nachrichtenagentur Reuters im Dezember 2006 das Portal You Witness News startete und ankündigte, auf Material von Hobbyfotografen zurückzugreifen, kritisierte der Deutsche Journalistenverband, solche Bilder entwerteten die Arbeit der Profis und hätten im Nachrichtenjournalismus nichts verloren.

Dennoch betreibt Stern.de das Portal Augenzeuge.de, Bild hetzt Leserreporter auf Prominente, die Saarbrücker Zeitung bittet Leser um Lokalnachrichten, und RTL wünscht sich keine Beiträge, sondern Rohmaterial von Wetterphänomenen - und erhält täglich 20 bis 50 Zusendungen, wie Nachrichtenchef Peter Kloeppel sagt. Mit Amateurbildern spare RTL kein Geld, sagt Kloeppel, aber Zeit im Kampf um Exklusivität.

Bürgerjournalismus habe es immer gegeben, sagt Nick Wrenn, der bei CNN International für die Nachrichtenproduktion verantwortlich ist. Wrenn erwähnt Leserbriefschreiber und den Amateur, der den Mord an John F. Kennedy filmte. Natürlich gebe es Journalisten, die skeptisch seien, besonders in Deutschland. Nirgendwo sonst gebe es soviel Angst davor. Die Deutschen fragten: Kann man diesen Berichten trauen? Wird der Bürgerjournalismus den professionellen Journalismus ersetzen? Er könne solche Frage verstehen, sagt Wrenn und versichert: Natürlich prüfe man Beiträge von iReport, bevor man sie auf CNN sende.

"Kein besonderer Erkenntniswert"

Im Normalfall seien die Amateurvideos "von keinem besonderen Erkenntniswert", sagt Nikolaus Brender, der Chefredakteur des ZDF. Das ZDF verzichte auf eine solche Plattform, denn "eine systematische und sorgfältige journalistische und urheberrechtliche Überprüfung der Videos durch die Redaktion ist für uns zu aufwendig."

Für Amateurvideos sprechen Bilder aus Kriegsgebieten wie Georgien oder Ländern ohne Pressefreiheit. Barbara Lüthi, Korrespondentin des Schweizer Fernsehens in China, verwendete in einem Beitrag über zwangsenteignete Bauern ein Handyvideo von 2005. Es zeigte einen Kampf, bei dem sechs Bauern erschlagen wurden. Natürlich habe sie Angehörige zum Schauplatz geführt und dort erzählen lassen, aber das Video sei unersetzbar. Ein solcher Beleg sei wichtig, wenn Behörden Vergehen bestreiten und Zeugen und Reporter einschüchtern. Lüthi ist bei Dreharbeiten schon mehrfach verhaftet worden. Aber sie sagt auch, ein solches Video sei ein seltener Einzelfall.

Ist iReport.com Journalismus? Frederik Pleitgen zögert. Das sei eine schwierige Frage, sagt er. Bürgerjournalismus habe dem professionellen Journalismus etwas hinzugefügt, könne aber nicht alleine stehen. Er betrachtet ihn nicht als Gefahr, sondern als willkommene Ergänzung. Bürgerjournalismus sei "eine Realität, die nicht mehr verschwinden wird", sagt er. Das klingt dann so, als sei es sinnlos, dagegen anzurennen.

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