Auswirkungen der App-Ökonomie:Das Ende der Trägheit

Auswirkungen der App-Ökonomie: App-Ökonomie: Trägheit kann sich in der vernetzten Welt schnell rächen.
Illustration: Lisa Bucher, Foto: Imago

App-Ökonomie: Trägheit kann sich in der vernetzten Welt schnell rächen.

Illustration: Lisa Bucher, Foto: Imago

  • Etwa 175 Milliarden Apps werden allein in diesem Jahr heruntergeladen. Das ist ein gewaltiges Geschäft.
  • Mit dem Wort Digitalisierung wird dieses Neue, diese größte technisch-wirtschaftliche Neuerung seit der Dampfmaschine, nur unzureichend beschrieben.
  • Die wahre Sprengkraft der App-Ökonomie kommt dann zum Tragen, wenn das Smartphone genutzt wird wie eine Art erweiterte Fernbedienung.

Von Helmut Martin-Jung

Niemand hatte das geahnt. Auch nicht Apple. Dabei hatte die Firma aus Kalifornien doch erst jenes Gerät erfunden, mit dem der Begriff App vor einigen Jahren Eingang fand in den Sprachgebrauch: das iPhone. Eine App, nahezu jeder weiß heute, was das ist: Auf dem Bildschirm eines Smartphones oder Tablets erscheinen kleine Symbole. Man berührt eines mit dem Finger und - schwupps - öffnet sich ein Programm. Etwa 175 Milliarden davon werden allein in diesem Jahr heruntergeladen werden, schätzt die Branche. Welch ein gewaltiges Geschäft!

Eine App lässt sich mit vergleichsweise geringem Aufwand programmieren, die meisten gibt es kostenlos zum Herunterladen, Geld wird mit Zusatzinhalten, mit einer Dienstleistung oder mit Werbung verdient. Und doch steckt in den Progrämmchen mit ihren Comic-haften Bildsymbolen große Sprengkraft. Das Entscheidende dabei ist nicht, dass die Programme billig sind und klein, nicht mehr teuer und überladen wie früher. Dass sie nur einem Zweck dienen, den aber gut erfüllen. Dass eine ganze Generation große Teile ihres Lebens damit organisiert.

Ein Smartphone ohne Internet ist wie ein Auto ohne Räder

Das ist alles richtig. Das Entscheidende, es liegt ganz woanders. Apps sind nur zum Symbol geronnene Symptome einer viel größeren Entwicklung. Einer Entwicklung, die das Leben der Menschheit bereits verändert hat - und es künftig noch viel mehr tun wird.

Eine Ahnung davon erhalten Handy-Vielnutzer immer dann, wenn sie längere Zeit keine Internetverbindung mehr haben. Aus dem Smart-Phone wird dann mit einem Schlag ein ziemliches Silly-Phone. Ein hochgerüstetes Gerät, das seiner nützlichsten Funktionen beraubt ist. Ein Auto ohne Räder.

Was Smartphones wirklich smart macht, ist ihre Verbindung zum Internet, ist die Vernetzung. Erst wenn sie Daten austauschen können, erwachen die meisten Apps überhaupt erst zum Leben. Ohne die Cloud - die imaginäre Wolke aus Rechnern - weiß das Smartphone nicht, wie die Aktien stehen, wo das nächste Taxi, ob der Zug pünktlich, das erwartete Paket schon angekommen ist.

Aber wenn die Apps nur das Symbol für eine große, eine weltverändernde Kraft sind - was steckt dann dahinter? Mit dem Wort Digitalisierung wird dieses Neue, diese größte technisch-wirtschaftliche Neuerung seit der Dampfmaschine, nur unzureichend beschrieben.

Die heute lebenden Menschen sind Zeugen einer ziemlich ungeheuerlichen Entwicklung. Viele sind sich wahrscheinlich gar nicht so richtig bewusst, in welchem Maße Mikrochips immer kleiner, immer leistungsfähiger und trotzdem billiger wurden. Die Computerleistung, mit der die Nasa einst die Mondlandung bewältigte, wird von einem heutigen Smartphone um ein Vielfaches übertroffen.

Auch Apple wird Fehler machen

Auswirkungen der App-Ökonomie: Illustrationen: Lisa Bucher, Fotos: Imago

Illustrationen: Lisa Bucher, Fotos: Imago

Für die meisten klingt das nach normalem Fortschritt, aber es bedeutet mehr. Viel mehr. Die menschliche Wahrnehmung ist eben nicht besonders gut darin, exponentielle Steigerungen zu begreifen - sie vollziehen sich einfach zu schnell, widersprechen der Erfahrung mit vielen anderen Dingen des Lebens. Dabei gibt es solches Wachstum auch in der Biologie: Wenn zum Beispiel ein Virus den menschlichen Körper befällt, nistet es sich ein in einer Blutzelle und zwingt diese, 100 Kopien von sich herzustellen. Die 100 kopierten Viren befallen 100 weitere Blutzellen - schon nach der fünften Generation wimmeln zehn Milliarden Viren im Blut. Und der Mensch hat einen Schnupfen.

Eine vergleichbare Entwicklung haben die kleinen Chips hinter sich. Die ersten Chips verfügten nur über einige wenige Transistoren. Auf einigen der jüngsten Siliziumplättchen jedoch stecken Milliarden dieser winzigen Schalter auf der Fläche einer Briefmarke, die Strukturen darauf sind bloß noch 14 Millionstel Millimeter breit. Man baut sie in besonders leistungsfähige Computer ein. Und müssen diese hochkomplexe Berechnungen ausführen, dann werden viele von diesen Chips zusammengeschaltet zu einem Supercomputer. Wahre Ungetüme sind das: Schränke voller Rechnerplatinen, dazwischen sündteure Kabel, sie zu verbinden. Der Energiebedarf einer Kleinstadt entsteht, wenn ein solches Monster auf Hochtouren läuft.

Viel wichtiger aber ist das andere Extrem. Mehr und mehr winzige Chips, die nur Centbeträge kosten, rechnen inzwischen losgelöst von Computern, wie wir sie kennen. Sie sind nicht sehr leistungsfähig, aber sie stecken überall. Und sie verwandeln alles. Kameras kamen plötzlich ohne Film aus, Musik ließ sich digital kopieren, platzsparend speichern und übers Netz verteilen, ganze Sammlungen passen auf einen iPod. Chips finden sich in Kleidungsstücken, in Uhren, in Autos, Straßen, Verkehrsampeln. Bald wird man Etiketten für Lebensmittel und andere billige Alltagsgegenstände mit Chips drucken.

Das Veränderungspotenzial steckt aber nicht im einzelnen Chip, sondern in deren Verbindung untereinander und mit der Cloud. Längst machen sich Netzwerkfirmen Gedanken darüber, wie sie die Daten bewältigen sollen, die entstehen, wenn schon in wenigen Jahren 30 Milliarden vernetzte Geräte die Netze mit Informationen fluten. Informatiker arbeiten an Algorithmen, die sich durch die Daten-Heuhaufen fressen und Wichtiges von Unwichtigem trennen, um nachgelagerte Systeme nicht zuzuschütten mit Daten. Denn: obwohl die Leistung der Chips dramatisch steigt, die Menge an Daten wächst noch schneller.

Viele der Apps, wie wir sie von Smartphones und Tablets kennen, öffnen ein Fenster in diese Welt. Manche sind auch nur fürs kleine Format angepasste Versionen herkömmlicher Internetangebote. Ob man die Pizza am PC bestellt oder am Smartphone, macht keinen großen Unterschied, außer dass vielleicht standortbezogene Informationen automatisch berücksichtigt werden können. Wo soll die Pizza hin und welcher Dienst liegt am nächsten?

Lokale Marktplätze sind das neue Schlachtfeld im Internethandel

Die wahre Sprengkraft der App-Ökonomie kommt dann zum Tragen, wenn das Smartphone genutzt wird wie eine Art erweiterte Fernbedienung. Wenn zum Beispiel in einer Firma alle relevanten Daten in der Cloud gespeichert sind, sie dort verarbeitet werden und den Mitarbeitern, die das brauchen, zur Verfügung stehen, schafft das neue Möglichkeiten. Wenn die Logistik-Kette eine Firma abgebildet wird, inklusive Risiken etwa durch schlechtes Wetter, bringt es in der heute üblichen just-in-time-Produktion große Vorteile. Wer vorher Bescheid weiß, kann reagieren und etwa Rohstoffe woanders ordern.

Aber das ist doch nur was für Konzerne, für große Mittelständler vielleicht. Was juckt das den kleinen Handwerker? Eine ganze Menge. In den USA hat der Internetkonzern Amazon vor kurzem Marktplätze für lokale Dienstleistungen gestartet, das "neue Schlachtfeld des E-Commerce", wie das amerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes das nennt. Solche Angebote gab es auch schon früher, doch wenn erst einmal die Dickschiffe der Branche loslegen, kann es für die kleineren Anbieter schnell eng werden.

Nicht bloß für die kleinen Betreiber von Marktplätzen, sondern auch für die Anbieter der Dienstleistungen selbst. Wer nicht mitmacht, braucht schon einen guten Kundenstamm, vor allem, wenn man in einer Region zugange ist, in der es nicht unbedingt boomt. Aber was hindert beispielsweise einen Bäcker, eine gute Internetseite aufzubauen, mit der Möglichkeit, Vorbestellungen zu platzieren, für Angebote zu werben, die schönsten Hochzeitstorten zu zeigen?

Während kleinere Anbieter eher in Gefahr sind, weil sie weder Chancen noch Risiken der vernetzten Welt sehen, tun sich die Großen oft schwer, ihre althergebrachte Arbeitsweise anzupassen an die neuen Gegebenheiten. Das alte Geschäft läuft ja meistens noch gut, umzusteigen auf neue Software und Prozesse, ist keine leichte Übung und teuer dazu.

Doch Trägheit kann sich in der vernetzten Welt schnell rächen. Etablierte Geschäftsmodelle können binnen kürzester Zeit in Gefahr obsolet sein. Nun sind Unternehmen nichts, das ewig bestehen muss und in der Tat findet man auch nur wenige, die älter sind als 100 Jahre. Schon immer gingen Unternehmen unter, weil Konkurrenten mit einer besseren Idee ihren Markt eroberten, durch "schöpferische Zerstörung", wie der Ökonom Joseph Schumpeter das nannte.

Nokia war einst ein Weltkonzern, dominierte mit seinen Handys den Markt. Dann kam Apple mit dem iPhone. Nokia konnte nicht rechtzeitig umsteuern. Nun ist das Handy-Geschäft verkauft, und demnächst soll auch das mit digitalen Kartendiensten abgegeben werden. Von Nokia bleibt nur die Netzwerksparte übrig.

Auch Apple wird die Welt nicht auf ewig beherrschen

Noch stärker als Nokia dominierte zu seiner Blütezeit IBM den Markt. 1985 war der Börsenwert von IBM mehr als doppelt so hoch wie der des nächsten Unternehmens, des Ölkonzerns Exxon. Doch 1985 hatte IBM seine größten Fehler schon gemacht. Hatte dem jungen Bill Gates und seiner Firma Microsoft die Hoheit über das PC-Betriebssystem DOS überlassen. Dass die vorherrschenden Großrechner bis auf Spezialanwendungen nahezu bedeutungslos werden würden - die IBM-Führungsmannschaft hatte es nicht vorhergesehen.

Einst hatte auch Apple-Gründer Steve Jobs seinen Macintosh-Computer als Gegenentwurf zu IBMs Großrechnern präsentiert, "traue keinem Computer, den du nicht aufheben kannst", lautete 1984 ein Werbespruch. Heute versucht IBM, seine Anlagen zur Analyse und Auswertung großer Datenmengen mit Apps zu verknüpfen - braucht dazu aber Apple und dessen Apps. Aus dem einstigen Beherrscher der Computerwelt ist ein Konzern geworden, der nach neuen Wegen sucht.

Aber auch Apple, Wegbereiter der App-Ökonomie, und derzeit mit weitem Abstand wertvollste Firma der Welt, wird solche Fehler machen, hat es vielleicht schon. Und in der schnellen vernetzten Welt von morgen kann es schon zu spät sein, wenn man auf neue Entwicklungen nur reagiert.

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