Anschlag in Berlin:Gelassenheit in Zeiten des Terrors

Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt

Berlin trauert um die Toten vom 19. Dezember.

(Foto: dpa)

Schüsse in Zürich, ein Mord in Ankara, der Anschlag in Berlin - trotzdem siegt in den sozialen Medien Besonnenheit über Hysterie. Das macht Mut.

Von Andrian Kreye

Kann man sich zu den laufenden Weltereignissen verhalten wie eine Comicfigur? Soll man die Einnahme Aleppos mit einem "Grrrr!" und den Anschlag auf den Breitscheidplatz mit einem "Schnief" kommentieren? War dann zur Nachricht vom Tod des Berliner Attentäters Anis Amri ein "Ey, okay" fällig? Oder eher ein "Woaaah?!"

Das wären zumindest die verbalen Übersetzungen für die Minibilder der Emoji-Funktion, die zum Beispiel beim Marktführer unter den sozialen Netzwerken, Facebook, unter jedem Beitrag sechs Comicsymbole für jene sechs Gefühlslagen anbietet, von denen die Ingenieure in Menlo Park glaubten, dass sie die menschliche Psyche auf einen globalen Nenner bringen.

Bei anderen Systemen wie Apple oder Twitter mag die Palette größer sein. Emojis stehen jedoch exemplarisch für einen Dauerzustand, der sich im Internet zementiert hat. Jedes dieser Bildchen transportiert ja nicht nur eine Gefühlslage, sondern auch eine Haltung. Damit wird das Internet zu einem Dauerstresstest für den jeweils persönlichen Wertekanon. Das ist das Netz seit einiger Zeit auch in den vielen Anwendungen und Portalen, die keine Emoji-Funktionen anbieten.

Alle Viertelstunde ein Blick aufs Handy

Man kann das ignorieren, sollte das aber nicht tun, weil ein immer größerer Teil der Mitbürger sich diesem Stresstest in beeindruckender Frequenz aussetzt. Nimmt man einen Mittelwert aus den unzähligen Studien zum Handygebrauch, schaut der digital vernetzte Mensch ungefähr alle Viertelstunde auf sein Handy. Auf dem kleinen Schirm werden aber nicht nur Stimmungen und Wertvorstellungen abgerufen. Es gibt auch einen Strom aus Echtzeitnachrichten, der dabei als Beschleuniger funktioniert und längst nicht mehr kontrollierbar ist.

Man muss keineswegs irgendwelchen sozialen oder digitalen Medien folgen, man sollte sich nur gewiss sein, dass der Gefühlshaushalt vieler Mitmenschen nicht nur durch Psyche und Hormone auf Tempo gebracht wird. Wie gewaltig sich digitale Schlüsselreize auf Emotionen und Entscheidungsprozesse auswirken, ist von der Hirnforschung inzwischen umfassend bewiesen.

Nimmt man nun noch den zeithistorischen Kontext dazu, in dem all dies in diesen Tagen geschieht, dann war der Höhepunkt dieses Stresstests für deutsche Internetnutzer (und nicht nur für die) diese Woche des Berliner Anschlags auf den Breitscheidplatz.

Deutschland als letzte Bastion der freiheitlich-humanistischen Welt?

Es ist jetzt sechseinhalb Wochen her, dass Deutschland von den laufenden Ereignissen und vor allem dem Wahlsieg Donald Trumps die Rolle als letzte Bastion der freiheitlich-humanistischen Welt zugewiesen bekam. Die Rolle ist keine Quersumme aus Internet-Posts und gefühlten Wahrheiten. Angela Merkel wurde von der Redaktion des amerikanischen Nachrichtenmagazins Time in der Begründung, warum sie "Person des Jahres" wurde, schon vor ziemlich genau einem Jahr zur "Kanzlerin der freien Welt" erklärt. Gleich nach Trumps Wahlsieg zog die New York Times nach. Fast gleichzeitig kürte der britische Historiker Timothy Garton Ash Merkel zum "leader of the free world".

Das ist aber nicht nur eine große Verantwortung für Angela Merkel, sondern auch für die Bürger ihres Landes. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man der statistische Weltmeister im Mülltrennen und ein Land mit ausnehmend hohen Toleranzwerten ist oder ob sich daraus eine Verpflichtung ableitet, weil der Rest der Welt und vor allem mit den USA die bisherige Leitnation der freiheitlichen Gesinnungen in politische Abgründe gerissen werden.

Und dann kam der Abend des vergangenen Montags, als die ersten Nachrichten vom Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz aus den Nachrichtenströmen herausplatzten, die sich an diesem Tag nach der Schießerei in einer Züricher Moschee, dem Attentat auf den russischen Botschafter und der bevorstehenden Bestätigung des Trump'schen Wahlsiegs durch das Wahlmännerkollegium sowieso schon enorm beschleunigt hatten.

Das Entscheidende an Social Media: die Geschwindigkeit

Man muss jetzt kurz relativieren, weil es das weitverbreitete Vorurteil gibt, ein immer größerer Anteil der Menschheit informiere sich überhaupt nur in den sozialen Medien. Das ist eine Mär, die auf einem Missverständnis amerikanischer Statistiken beruht. Das hoch angesehene Pew Research Center hat zum Beispiel im Mai dieses Jahres eine Untersuchung veröffentlicht, nach der 44 Prozent aller erwachsenen Amerikaner ihre Nachrichten aus Facebook beziehen.

Diese Zahl hält sich seither hartnäckig als Bezugsrahmen. Allerdings fehlt in den Berichten über diese Größe in der Regel ein entscheidendes Wort: auch. Schlüsselt man die Untersuchung auf, dann sind es 18 Prozent, die ihre Nachrichten oft aus sozialen Medien beziehen, 26 Prozent manchmal, 18 Prozent selten und 38 Prozent nie. In diesen Statistiken fehlt sowieso die Tatsache, dass ein Großteil der Nachrichten in sozialen Netzwerken auf Links zu Berichten auf den Seiten traditioneller Medien beruht.

Sehr viel entscheidender als die vermeintliche Ausschließlichkeit, die ja letztlich nur Internetnutzern Ignoranz unterstellt, ist die Geschwindigkeit. Davor fürchten sich vor allem Ermittlungs- und Regierungsbehörden.

Grausame Fotos und Videos in Echtzeit

Selbst wer den Fluss seiner sozialen Netzwerkseite auf eher private Nachrichten von Freunden und freundlich gesinnten Kontakten eingestellt hat, wer Nachrichtenquellen ausblendet und sich auf die schönen Dinge des digitalen Lebens konzentriert, wird aktuellen Bildern und Nachrichten kaum entkommen. So bekam man in dieser Woche unter anderem die Ermordung des russischen Botschafters als Video, die Bilder schwerverletzter Kinder in Aleppo und das Grauen am Breitscheidplatz im Detail zugespielt, gefolgt von einem Propagandabild des IS, das sehr drastisch den letzten Moment zeigt, bevor zwei türkische Soldaten bei lebendigem Leib verbrannt werden.

Der Mechanismus sozialer Netzwerke verlangt nun, dass man sich dazu verhält.- Im Internet kann man nicht einfach konsumieren oder beobachten. Ständige Reaktion ist eine soziale Währung, die inzwischen vom Algorithmus der sozialen Netzwerke auch eingefordert wird.

Das geschieht in der Regel in einer Geschwindigkeit, die den Kommunikationsabteilungen bei Ermittlungsbehörden und Regierungsstellen eine immer größere Reaktionsgeschwindigkeit abverlangt. Vor allem aber macht es die Hypertransparenz des Netzes weitgehend unmöglich, öffentliche Meinungen zu bremsen oder Informationen über den Ermittlungsstand zu steuern. Nachrichtensperren sind ja kein Mittel der Zensur, um die Öffentlichkeit, sondern eine taktische Methode, um Gesuchte im Unklaren zu lassen.

Berlin und Deutschland blieben erstaunlich besonnen

Nun jammert niemand den analogen Zeiten hinterher. Im Gegenteil, die deutschen Behörden haben sich längst auf die digitalen Realitäten eingestellt. Polizeistellen unterhalten Twitterkonten und stellen für die unmittelbare mediale Nachbearbeitung Sprecher wie Winfrid Wenzel (Berlin) oder Marcus da Gloria Martins (München) ein, die mit freundlich-souveräner Medienwirkung Ruhe verbreiten können.

Und trotzdem beobachteten sie den Stresstest an diesem Abend voller Furcht. Hysterie, Hass und Hetze kannte man noch aus dem amerikanischen Wahlkampf, in und nach dem sich der Spitzenkandidat Donald Trump selbst als digitaler Durchlauferhitzer profilierte.

Doch es kam ganz anders. Weder Internetnutzer noch Bürger, Medien oder Behörden ließen sich hinreißen. Ausreißer aus den populistischen Lagern wurden zurechtgewiesen. Die Behutsamkeit, mit der berichtet und reagiert wurde, die Hartnäckigkeit, mit der Nutzer, Medien und Behörden immer wieder Formulierungen benutzten, die der Unschuldsvermutung gerecht wurden, mag angestrengt gewirkt haben. Doch Berlin und Deutschland bleiben erstaunlich besonnen.

Die digitale Gesellschaft ist weitestgehend unerforscht

Jetzt wäre es eigentlich an der Soziologie, das zu untersuchen. Allerdings gibt es immer noch wenig Forschung, die sich mit der digitalen Gesellschaft als Ganzes beschäftigt. Die zwei bekanntesten Erklärungsmodelle stammen beide noch aus den Frühzeiten der sozialen Netzwerke.

Die eine beruht auf einem Essay, das der Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Jaron Lanier, 2006 mit dem Titel "Digitaler Maoismus" veröffentlichte. Darin schrieb er: "Der Siegeszug eines Online-Kollektivismus bedeutet nichts anderes als die Wiederkehr der Idee, dass das Kollektiv über eine allwissende Weisheit verfügt, die man zentral bündeln und lenken muss. Dies ist das Gegenteil von Demokratie und Meritokratie." Die digitalen Hetzmeuten des Populismus wären dafür das perfekte Beispiel.

Auch in Höchstgeschwindigkeit ist vernünftiges Handeln möglich

Doch es gibt noch eine andere Lesart des digitalen Kollektivs. Die stammt vom Wirtschaftsredakteur der Zeitschrift New Yorker, James Surowiecki. Der beschrieb in seinem Buch "Die Weisheit der Vielen" 2004 den Schwarmgeist der digitalen Massen als sehr viel klüger als die Deutungshoheit der traditionellen Eliten.

Glaubt man Surowiecki, dann haben sich die deutschen Bürger und Nutzer in dieser Woche als widerstandsfähig bewiesen, gegen all die emotionalen und politischen Überhitzungen, die im mentalen Turbodrom des Internets der Standard sind. Das war dabei keineswegs eine Entschleunigung. Es war nur der Beweis, dass man auch in Höchstgeschwindigkeit vernünftig reagieren und denken kann. Ist die digitale Gesellschaft nun in Deutschland vernünftig geworden? Viel wahrscheinlicher ist, dass das Digitale gar keine eigene Welt, sondern nur ein Abbild der Wirklichkeit ist.

Eine Garantie, dass die Besonnenheit der vielen nicht in die Mob-Mentalität umschlägt, die Lanier beschreibt, gibt es nicht. Der Anschlag von Berlin war doch ein gewaltiger Schock. Doch selbst den kann man auf der Länge eines Tweets durchaus vernünftig einordnen. So schrieb der deutsche Vertreter der Comedy als moralischer Instanz, Jan Böhmermann, am Donnerstag auf Twitter ganz unironisch: "1933 ist unser 9/11". Maximale Verdichtung eines historischen Kontextes - die hohe Kunst des Internets.

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