Alcatel-Lucent Chef Verwaayen:Netzneutralität? Bald kein Thema mehr

Alcatel-Lucent-Chef Ben Verwaayen über das Internet der Zukunft - und die Frage, wann Nutzer bereit sind, für ein Megabyte zehn Cent zu zahlen.

M. Kläsgen und T. Riedl

SZ: Herr Verwaayen, Sie sind Niederländer, waren Chef der British Telecom. Jetzt leiten Sie einen amerikanisch-französischen Konzern ...

Verwaayen, chief executive of Alcatel-Lucent, gestures during a news conference in New Delhi

Ben Verwaayen muss als Chef des Netzausrüsters Alcatel-Lucent dafür sorgen, dass die Datenautobahnen dem steigenden Verkehr standhalten. Doch Herausforderungen kennt Verwaayen: Ende der achtziger Jahre, er war 36 Jahre alt, musste er die niederländische Telefongesellschaft, einen Staatskonzern mit 30.000 Mitarbeitern, privatisieren.

(Foto: REUTERS)

Verwaayen: ... ein globales Unternehmen, wenn ich Sie unterbrechen darf, dessen Sitz in Paris ist. Schaue ich aus dem Fenster, sehe ich den Eiffelturm. Wahrscheinlich hat jemand mein Büro absichtlich hierhin verlegt, weil er dachte, der ist Ausländer, dann weiß er, wo er ist. Spaß beiseite: Unsere Mitarbeiter und Kunden sind überall auf der Welt.

SZ: Von den fast 80.000 Beschäftigten arbeiten mehr in Indien als in Frankreich. Wie indisch ist Alcatel-Lucent?

Verwaayen: Es überrascht mich immer ein wenig, wie fasziniert manche Menschen vom Pass eines Konzerns sind. Er kann eine Kultur und eine Rechtsform haben. Die Kunden entscheiden, welchen Pass er hat.

SZ: Und das sagen Sie in einem Land des Wirtschaftspatriotismus, in Frankreich, wo Alcatel einst ein "nationaler Champion" war?

Verwaayen: Sie müssen loyal zu ihren Kunden, den Aktionären und Mitarbeitern sein. Die Frage nach dem Pass ist deshalb so gefährlich, weil Protektionismus das Schlimmste ist, was uns in der gegenwärtigen Lage passieren könnte.

SZ: Die Telekommunikationsindustrie ist wie kaum eine andere globalisiert. Zugleich ermöglicht sie eine Kommunikation rund um den Globus in Sekundenschnelle. Welche Geräte haben Sie heute schon benutzt?

Verwaayen: Meinen Blackberry, mein Telefon, meinen Computer. Ich habe mit meinem Sohn in Indonesien gemailt und mit meiner Tochter in Amsterdam Kurznachrichten per Chat ausgetauscht. Danach bin ich auf unsere interne soziale Netzwerkplattform "Engage" gegangen und habe eine Mitteilung an alle Mitarbeiter geschrieben. Dann habe ich E-Mails bearbeitet und hatte einige persönliche Gespräche.

SZ: Was hatte Alcatel-Lucent davon?

Verwaayen: Jede Menge. Wir sind einer der größten Ausrüster von Festnetz- und Mobilfunknetzen. Wir machen das, was nötig ist, damit Internet und Intranet funktionieren. Wenn Sie ein Gerät in der Hand halten, telefonieren, Text- oder Videonachrichten verschicken, sorgen wir dafür, dass das reibungslos klappt.

SZ: Das wissen nur wenige. Alle reden von Google oder Facebook, niemand von Alcatel-Lucent. Ärgert Sie das?

Verwaayen: Überhaupt nicht. Es gibt nun einmal unterschiedliche Rollen im Leben. Wir sind auf Geschäftskunden ausgerichtet und sorgen dafür, dass Menschen Kommunikationsnetze nutzen können. Schauen Sie sich Facebook an: Da finden Sie nur noch wenig Text, aber viele Bilder. Wir haben bislang Netze für Worte gebaut: gesprochene, dafür haben wir das Telefon; geschriebene, dafür gibt es das Fax, und getippte, also die E-Mail. Doch jetzt kommunizieren die Menschen öfter mit Fotos und Filmen. Technisch betrachtet, bedeutet das eine Veränderung der Netzkapazität und einen immensen Zuwachs der Datenmenge. Und niemand will dafür mehr bezahlen. Wir sind die einzige Branche, wo der Verbrauch wächst, aber alle glauben, es sei normal, das Gleiche wie zuvor zu bezahlen.

SZ: Die Preise steigen also?

Verwaayen: Die Preise werden jedenfalls anders als heute berechnet werden.

SZ: Wer soll in Zukunft für den Datenverkehr zahlen?

Verwaayen: Endgültig ist das noch nicht entschieden. Entweder Google und Co. zahlen für den Verkehr im Datennetz oder der Verbraucher kommt dafür auf. Oder, eine dritte Möglichkeit: Die Einnahmen aus der Handy-Werbung werden geteilt zwischen den Internetkonzernen wie Google, den Betreibern von Datennetzen und den Ausrüstern. Ich bin für eine Kombination der drei Wege. Es gibt nicht nur eine Lösung. Das Geschäftsmodell, das ausschließlich auf geringen Zugangskosten basiert, ist jedenfalls dauerhaft nicht zu halten.

SZ: Das sagen Sie, weil Ihre Industrie am meisten darunter leidet.

Verwaayen: Ja, wir verkaufen Megabytes, aber niemand kann sich vorstellen, was ein Megabyte ist. Wir müssen diesem Nichts einen emotionalen Wert geben, zum Beispiel, indem wir es ermöglichen, dass man überall in der Welt seine Familie auf den Bildschirm holen kann. Dann hat ein Megabyte einen fühlbaren Wert. Dann ist jeder bereit, dafür zehn Cent auszugeben. Wir müssen solche neuen Dienste finden, die attraktiv genug sind, um damit Geld zu verdienen.

SZ: Also werden die Kunden wieder zur Kasse gebeten?

Verwaayen: Der Verbraucher zahlt am Ende immer. Wir werden in Europa Hunderte Milliarden Euro in Hochgeschwindigkeitsnetze investieren müssen.

SZ: Brauchen Sie auch Geld vom Staat für den Aufbau der Infrastruktur?

Verwaayen: Seien wir doch ehrlich: Die Staaten müssen sparen.

SZ: Wie also wollen Sie die Milliarden-Investitionen stemmen?

Verwaayen: Es gibt verschiedene Modelle, um diese Infrastruktur zu bauen. Australien setzt auf Unabhängigkeit. Dort sind die Kommunikationsnetze wieder verstaatlicht worden. Die Anbieter konkurrieren bei Diensten wie den Internetzugängen. Andernorts wird der Wettbewerb von der Politik gefördert, nur in Ausnahmen gibt es eine Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft. Schließlich gibt es die Möglichkeit, dass Telefongesellschaften untereinander kooperieren, etwa ihre Netzinfrastruktur gemeinsam nutzen. Wir haben die Wahl.

SZ: Was wäre das Beste für Europa?

Verwaayen: In Europa ist die Konkurrenz groß und viele ehemalige Monopolisten sind privatisiert. Man muss ihnen jetzt helfen: etwa bei der Vergabe von Funkfrequenzen durch eine unterstützende Preis- oder Wettbewerbspolitik. Heute steht das Verbraucherinteresse im Mittelpunkt - gut für niedrige Preise ...

SZ: ... und toll für die Verbraucher.

Verwaayen: Richtig, niedrige Preise sind wunderbar. Aber es muss auch sichergestellt sein, dass man die Netze der Zukunft bauen kann.

"Wer sich nicht anpasst, ist in 25 Jahren nicht mehr da"

SZ: In den Niederlanden haben Sie die Liberalen unterstützt, die sich für die Privatisierung des Telekommunikationsmarkts einsetzten. Heute geht es vielen einstigen Staatsunternehmen in Europa schlecht. Bereuen Sie Ihr Engagement?

Verwaayen: Ich habe noch erlebt, wie Sie sich auf die Warteliste setzen lassen mussten, um ein Telefon zu erhalten. 1987 kam ich zu der damals staatlichen, niederländischen Telefongesellschaft PTT. Ich war 36 Jahre alt und sollte den Konzern mit 30.000 Mitarbeitern privatisieren. Wenn man nicht verlieren kann, habe ich den Beamten damals eingetrichtert, dann kann man auch nicht gewinnen. Es hat sich gelohnt. Wer hätte sich vor zehn Jahren ausgemalt, was wir heute im Internet machen können.

SZ: Aber etwas ist schiefgelaufen. Warum konnten Internetfirmen wie Google oder Facebook so stark werden und die einstigen Monopolisten so schwach?

Verwaayen: Schiefgelaufen? Wir sind Zeugen eines phänomenalen Erfolgs. Google und all die anderen haben in sehr kurzer Zeit das Gesicht dieser Welt verändert, weil der Kunde es so wollte.

SZ: Der Kunde will Videos und Bilder versenden, Sie wollen dafür Geld sehen. Läuft das auf ein Internet der zwei Geschwindigkeiten hinaus, ein kostenloses langsames und ein hochwertiges teures?

Verwaayen: Die Debatte um die Netzneutralität gibt es nur, weil die Kapazitäten nicht reichen. Stocken wir die Kapazitäten massiv auf, ist das kein Thema mehr. Wir müssen Netze für Videoverkehr bauen, die auch interaktiv sind. Das wird eine Wissensgesellschaft schaffen. Der Arzt, der Ihre Röntgenaufnahme analysiert, sitzt künftig vielleicht nicht mehr in Ihrer Heimatstadt, sondern in Indien. Und Sie konsultieren ihn online.

SZ: Ist Alcatel-Lucent für diese schöne neue Welt überhaupt gewappnet?

Verwaayen: 2008, als ich kam, gingen drei Viertel unseres Forschungsbudgets, und das sind mehr als zwei Milliarden Euro, in die Verbesserung bestehender Produkte. 2011 werden drei Viertel des Geldes in neue Technologien fließen.

SZ: Trotzdem: Was hat die Fusion von Lucent und Alcatel gebracht? Alcatel kam 2006 auf einen Umsatz von 13 Milliarden Euro. Heute liegt dieser gemeinsam mit Lucent bei 15 Milliarden Euro.

Verwaayen: Keine der beiden Firmen würde es ohne die Fusion mehr geben. Es stimmt, der Zusammenschluss ist wahrscheinlich nicht besonders gut gelaufen. Inzwischen stehen wir aber gut da.

SZ: Wer trägt die Schuld, dass es so viele Probleme bei der Fusion gab?

Verwaayen: Ich werde niemanden den Schwarzen Peter zuweisen.

SZ: Was hätte besser laufen können?

Verwaayen: Meine erste Lektion als Unternehmenslenker lautet: Erteile anderen keine Lektionen.

SZ: Ist der Umschwung geschafft?

Verwaayen: Mit solchen Aussagen sollte man vorsichtig sein, es kann immer Unvorhergesehenes passieren. Aber: Seit zwei Quartalen verdienen wir Geld und das letzte Quartal 2010 wird stark.

SZ: Der Aktienkurs dümpelt dahin.

Verwaayen: Nach der bewegten Geschichte dieses Unternehmens sagen uns die Aktionäre: 'Zeigt, dass Ihr es besser könnt! Wir glauben Euch, wenn die Zahlen vor uns liegen.' Ich verstehe das.

SZ: Sie glauben an das Gute im Markt. Können die Mitarbeiter an Sie glauben? Garantieren Sie den Erhalt der Jobs an den deutschen Standorten?

Verwaayen: Garantien gibt es nicht in der Wirtschaft. Eines aber kann ich versprechen: Wer sich nicht anpasst, ist in 25 Jahren nicht mehr da. Wir müssen uns immer wieder anpassen. Wir holen neue Leute zu uns, geben jungen eine Chance. Wir verändern uns, auch in Deutschland.

Interview: Michael Kläsgen und Thorsten Riedl

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