US-Soziologin Sherry Turkle über das digitale Zeitalter:"Ich poste, also bin ich"

Wie verändert der Umgang mit Computern uns und unser Bewusstsein? Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt sich Sherry Turkle vom Massachusetts Institute of Technology mit den Folgen der Digitalisierung. Im Interview spricht sie darüber, wie sich unser Sozialverhalten durch Facebook und Co. verändert und wie Apple der digitalen Oberflächlichkeit den Weg bereitete.

Johannes Kuhn

Wie verändert der Umgang mit Computern uns und unser Bewusstsein? Die US-Soziologin Sherry Turkle beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit der Beantwortung dieser Frage. In Büchern wie "Die Wunschmaschine" (1984) oder "Leben im Netz" (1998) hat sie die Folgen der Digitalisierung eindrücklich beschrieben. Für ihr aktuelles Buch "Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other" hat die Professorin für Science, Technology and Society am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Hunderte Jugendliche und Erwachsene zu ihrem digitalen Nutzungsverhalten befragt und ist zu einem beunruhigenden Schluss gekommen.

Sherry Turkle

US-Soziologin Sherry Turkle: "Manchmal ist es wichtig, dort zu sein, wo man ist."

(Foto: Peter Urban, oH)

sueddeutsche.de: Mrs. Turkle, Sie attestieren der digital vernetzten Menschheit in Ihrem Buch eine gemeinsame Einsamkeit. Verkennt ein solches Urteil nicht den kommunikativen Fortschritt, der durch die Internet-Revolution ausgelöst wurde?

Sherry Turkle: Wie alle anderen Menschen bin ich weiterhin sehr fasziniert von der digitalen Welt, weil sie viel Vergnügen und ständig neue Entdeckungen bietet. Gleichzeitig sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir Computer beinahe als Begleiter verstehen. Begleiter, mit denen wir kommunizieren, die uns aber nicht verstehen - die wir aber dennoch den Älteren als Gefährten und den Kindern als Lehrer an die Hand geben.

sueddeutsche.de: Aber sind Computer vom Laptop bis zu Smartphones nicht vor allem Hilfswerkzeuge?

Turkle: Bei jeder Technik müssen wir als Menschen überlegen, zu welchem Zweck sie uns dient und ob diese Technik etwas verbessert. Ich glaube, dass wir hier inzwischen etwas aus der Spur geraten sind.

sueddeutsche.de: Können Sie Beispiele nennen?

Turkle: Während meiner Recherche habe ich viele Verhaltensmuster gefunden, die zeigen, dass Internet und Technik zu Fluchtpunkten vor echter Kommunikation geworden sind. Eltern sitzen bei einem Spiel ihrer Kinder auf der Tribüne und surfen mit dem Laptop im Internet, wir packen unser Handy beim Abendessen oder sogar während Beerdigungen aus, gehen durch die Straßen der Stadt und nehmen nicht wahr, was um uns herum passiert, sondern gucken auf unser Smartphone-Display.

Weil wir gerne woanders sein würden, versuchen wir uns digital an einen anderen Ort zu versetzen. Aber manchmal ist es wichtig, dort zu sein, wo man ist.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt die Vorstellung, mit dem Smartphone unsere Kommunikation besser kontrollieren zu können?

Turkle: Eine große: Mir haben einige Jugendliche erzählt, Telefongespräche inzwischen zu vermeiden, weil sie dort zu viel von sich preis geben. Für sie sind Facebook und SMS eine Möglichkeit, Emotionen zu verstecken, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Eine Entschuldigung per E-Mail oder SMS erlaubt mir, die damit verbundenen Emotionen auszuklammern, also die Kommunikation zu kontrollieren. Aber zu einer Entschuldigung gehört auch die Reaktion des anderen, die Konfrontation mit Gefühlen, Reaktionen, Konsequenzen.

sueddeutsche.de: Technisch vermittelte Kommunikation gibt es allerdings schon lange, vom Telegramm über das Telefon.

Turkle: Wir tun uns mit der Aussage, alles was passiert habe es schon einmal gegeben, keinen Gefallen. Wenn wir telefonieren, merken Sie, ob ich gerade aufmerksam bin, wie lange ich für Antworten brauche. Eine Chat-Nachricht oder SMS ist etwas ganz anderes. Sie würden ja auch nicht das Telegramm mit der E-Mail vergleichen.

Gegenwärtig können wir auf viele technisch vermittelte Kommunikationsformen zurückgreifen. Wir sollten sie uns genau ansehen, wie sie funktionieren, weil einige davon uns elementarer Dinge berauben. Unsere neue Art der Kommunikation ist effizient, aber was passiert, wenn diese Effizienz plötzlich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt?

"Für diese Einsamkeit haben wir noch kein Wort gefunden"

sueddeutsche.de: Eine der Utopien des Internets war, dass Menschen die Freiheit hatten, im Netz zu sein, was auch immer sie wollten. Wo stehen wir heute mit Portalen wie Facebook, die ja die Realität sehr stark abbilden wollen?

Turkle: Die Identitätskonstruktion über Facebook ist paradox. In den Untersuchungen zu meinem Buch war ich nicht einmal so sehr über die Zeit erstaunt, die Nutzer auf Facebook verbringen, sondern über die ständige Beschäftigung mit dem eigenen Profil.

Erwachsene, die ich befragt habe, sehen das häufig mit einer großen Portion Zynismus - sie wissen, dass diese Falschheit dort draußen existiert. Teenager hingegen finden das sehr verwirrend und klagen über Performance-Müdigkeit, weil sie immer ihr bestes Selbst zeigen müssen.

sueddeutsche.de: Ein durch Kommunikation gestaltetes Selbstbild.

Turkle: Es ist ein bisschen "Ich poste, also bin ich." Hier hat sich etwas verändert: Früher hieß es "Ich habe ein Gefühl, also rufe ich jemanden an." Nun heißt es: "Ich möchte ein Gefühl auslösen, also poste ich oder schreibe eine SMS." Und all das passiert, während wir alleine mit einem beleuchteten Bildschirm interagieren. Für diese Einsamkeit, die damit verbunden ist, haben wir noch kein Wort gefunden.

sueddeutsche.de: Was Sie beschreiben, ist eine Art Kultur der Simulation. Gibt es einen Weg hin zu einer Alternative?

Turkle: Wir leben in einer Black-Box-Kultur, das muss sich ändern. Die Computerkultur baute darauf auf, in einem offenen System zu arbeiten, neue Dinge ausprobieren zu können - genau das wurde früher in den Schulen gelehrt. Mit dem Apple Macintosh ging das zu Ende - es ging plötzlich um die Oberfläche des Bildschirms.

Das hat dem Computer zum Durchbruch verholfen, der Preis war aber, dass die meisten Menschen zu passiven Nutzern wurden, weil sie das System nicht mehr verstehen mussten. Alles dreht sich jetzt um "was kann es für mich tun?", anstatt um die Frage "wie kann ich es verändern, nach meinen Wünschen gestalten?".

sueddeutsche.de: Ein solcher Kulturwandel ist ein langfristiges Projekt - was sollte kurzfristig geschehen?

Turkle: In meinen Befragungen haben viele Jugendliche und Erwachsene erzählt, dass sie ihr Leben in der digitalen Welt als Stress wahrnehmen. Das muss nicht heißen, dass sie plötzlich offline gehen - das fordere ich in meinem Buch auch nicht.

Vielleicht aber führt ein Bewusstsein für diese Entwicklungen zu Korrekturen im Verhalten, zu einer Debatte über Privatsphäre. Ich mag Facebook, es ist ein tolles Portal - man sehe sich nur an, welche Rolle es in Ägypten gespielt hat. Aber wenn mir E-Mails in der heutigen Form keine Privatsphäre garantieren, wenn Mark Zuckerberg sagt, dass Privatsphäre ein veraltetes Konzept ist, müssen wir als Bürger eine Antwort darauf geben.

sueddeutsche.de: Wie sehen Sie die Chancen, dass die Debatte wirklich offen geführt werden kann? Immerhin werden solche Fragen häufig zu einem Kampf zwischen Technoptimisten und Technikfeinden stilisiert.

Turkle: Es ist tatsächlich schwierig, weil Menschen wie ich natürlich derzeit in die Technikfeind-Schublade wandern. Ich bin müde, Artikel mit dem Tenor "Sie war einmal auf dem Titelblatt von Wired und jetzt mag sie Technologie nicht mehr. Wie kann sie es wagen?" zu lesen. Das ist für mich vollkommen uninteressant. Man kann sich für Technologie begeistern und gleichzeitig versuchen, die Entwicklung in eine richtige Bahn zu lenken.

Der inhärente technische Fortschritt ist nichts, was wir als gottgegeben respektieren müssen. Vielleicht macht der technische Fortschritt die Welt zu einem Spiel und der Industrie gefällt das, weil sie damit viel Geld verdient. Aber das würde nicht das private und politische Leben respektieren, das wir führen möchten.

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