Musikstreaming:Spotify entdeckt das Twitter-Prinzip

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Spotify-Chef Daniel Ek: Rechtfertigung des Geschäftsmodells mit Hilfe von Metallica. (Foto: AFP)

Jeder ist ein DJ: Spotify setzt künftig auf die von Twitter bekannte Follower-Kultur. Die Idee soll die Nutzerzahl nach oben treiben und bessere musikalische Orientierung bieten - doch kann sie womöglich auch die Popkritik demokratisieren?

Von Dirk von Gehlen

Es gibt in dem gern als Metapher auf die Digitalisierung interpretierten ersten Teil der "Matrix"-Trilogie aus dem Jahr 1999 eine Szene, in der die Hauptfigur Neo "Waffen" verlangt, "viele Waffen". Gemeinsam mit der weiblichen Hauptfigur Trinity steht er in einem virtuellen und deshalb unendlichen, weißen Raum. Kurz darauf rauschen Waffenschränke im Ausmaß und in der Geschwindigkeit zahlloser Güterzüge auf die beiden zu. Als diese zum Stehen kommen, ist der Raum gefüllt mit Waffen. Mit unendlich vielen Waffen.

Am Donnerstagabend deutscher Zeit luden die Macher des Musikstreaming-Portals Spotify in New York zu einer Pressekonferenz, die in die ganze Welt übertragen wurde. Und nach dem, was der 29-jährige Mitgründer Daniel Ek dabei erzählte, lohnt es sich noch einmal an die Waffenszene aus "Matrix" zu denken. Der Film illustriert mithilfe des weißen Raums die Leere und anschließend die Fülle des Virtuellen.

In einer ähnlich im Wortsinn unfassbaren Situation befinden sich Musikfans heute im Internet. Nur, dass in den Waffenschränken der Streamingportale Songs stecken und keine Gewehre. 20 Millionen Lieder stellt Spotify seinen Nutzern zur Verfügung. Die Überforderung, die von einem solchen Überangebot ausgeht, drücken die "Matrix"-Macher in dem Dialog zwischen Trinity und Neo aus, der als eine Art Leitformel für den Umgang mit dem digitalen Wandel gelesen werden könnte: "Niemand hat so etwas jemals zuvor getan", sagt Trinity zu Neo und erhält zur Antwort, was auch Daniel Ek seinem Publikum am Donnerstag gesagt haben könnte: "Deshalb wird es jetzt funktionieren."

Rechtfertigung des Geschäftsmodells

Ein Schnipsel des The Clash-Klassikers "Rock the Casbah" erklingt, als Ek die Bühne betritt und eine Präsentation beginnt, die eine Fortentwicklung seines Dienstes ankündigen soll, aber doch nie wirkt wie eine klassische Silicon-Valley-Show, sondern stets wie eine Rechtfertigung.

Den Höhepunkt bildet ein gemeinsamer symbolischer Auftritt von Sean Parker, dem Mitgründer der Tauschbörse Napster, der heute Geld in Spotify investiert hat und dem langjährigen Napster-Gegner und Metallica-Schlagzeuger Lars Ulrich. Die beiden verkünden, dass künftig auch die Songs der Digitalisierungs-Skeptiker von Metallica bei Spotify zu hören sein sollen.

Eine Versöhnung zwischen Piraterie und Rock 'n' Roll - mit diesem Anspruch waren Ek und sein Mitgründer Martin Lorentzon 2008 im Heimatland von Pirate Bay angetreten. Und darauf setzen sie auch jetzt wieder, da die Kritik immer lauter wird, Künstler würden von den Minibeträgen, die Spotify pro Stream zahlt, nicht leben können.

70 Prozent ihrer Einnahmen gingen an die Rechteinhaber stellt Ek klar und nennt Zahlen, die untermauern sollen, was er etwas zu streberhaft behauptet: "Wir bei Spotify sehen uns als Punks." Soll heißen: Wir gehören auch zu denen, die von sich glauben, die Guten zu sein, zum Establishment des Pop, das die Digitalisierung in eine anhaltende Verunsicherung gestürzt hat. Aber keine Sorge: Wir wollen mithelfen, Menschen Musik näherzubringen und Künstlern Einnahmen zu sichern.

500 Millionen Dollar habe sein Unternehmen seit Gründung an die Plattenfirmen überwiesen, rechnet er Punk-untypisch vor. Möglich wird dies durch 20 Millionen aktive Nutzer, von denen ein Viertel den bezahlpflichtigen Premium-Dienst für fünf oder zehn Euro monatlich nutzt. So wurden bereits eine Milliarde Playlists erstellt. Das soll beeindrucken, ohne protzig zu wirken, deshalb schiebt Ek die Information nach, dass vier Millionen davon das Wort "Liebe" im Titel tragen.

Trotzdem hat Ek außer dem sanften Popstreber-Nörgeln (gegen das er den Mumford-and-Sons-Manager auf die Bühne holt, der sagt, dass Streaming nicht den Verkauf von Musik kannibalisiert) ein zweites Problem, das mit dem oben beschriebenen "Matrix"-Moment zu tun hat: Die Nutzer von Spotify wissen nicht so genau, an welchem dieser unendlich vielen Regale sie sich zuerst bedienen sollen.

Das Digitale bietet ein Zuviel, für das die Menschheit noch keine Kulturtechnik entwickelt hat. In Zeiten des Vinyls diente das private Regal im Wohnzimmer als Ausweis von Kennerschaft und Distinktion. Heute gibt es Regale in Güterzug-Länge im Netz. Wer nicht weiß, dass "Rock The Casbah" 1982 auf dem Album "Combat Rock" veröffentlicht wurde, schaut es halt schnell nach. Aber wie soll man sich da orientieren?

Nutzer können Fans sammeln

Was echte Menschen hören, soll bald als Leitfaden dienen. So wird eine Funktion namens Music-Graph, mit der sich Spotify Anfang Januar erneuert, Playlisten anbieten. Der Streaming-Dienst, der zum Deutschlandstart nur in Kombination mit Facebook zu nutzen war, nähert sich damit dem Follower-Prinzip von Twitter an. Musiker, Prominente, gewöhnliche Nutzer können künftig Fans sammeln, die ihrer persönlichen Musikauswahl folgen. Jeder wird so zum DJ und kann mit seinem Musikgeschmack Gefolgschaft sammeln. "Willst du wissen, was Obama hört, bevor er der Welt Rede und Antwort steht?", fragt die Pressemitteilung und antwortet: "Jetzt ist es möglich."

Dass ausgerechnet Obama hier als Beispiel angeführt wird, sagt einiges über den Zustand des Pop und die Orientierungsmuster im Digitalen: Twitter hat das DJ-Prinzip auf Text übertragen und liefert einer wachsenden Zahl an Menschen personalisierte Live-Informationen. Dieses Prinzip will sich die Musik jetzt zurückholen: Spotify zeigt künftig nicht mehr nur an, was enge Freunde hören, sondern schafft Leitfiguren, die Orientierung liefern sollen im unübersichtlichen Überangebot des Digitalen.

Vielleicht steckt in diesem Ansatz mehr als nur ein Relaunch von Spotify. Vielleicht zeichnet sich hier ein Relaunch des Prinzips des Kritikers ab, der seine Autorität nicht mehr nur im Reden über Musik begründet, sondern im Hören und Vorspielen. Vielleicht liefert die Demokratisierung der DJ-Culture eine Zukunftsperspektive auch für andere Inhalte im Digitalen. Wie heißt es in "Matrix"? "Niemand hat so etwas jemals zuvor getan." - "Deshalb wird es jetzt funktionieren."

© SZ vom 08.12.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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