Von der Grundschule aufs Gymnasium:Wie gelingt der Übertritt stressfrei?

Spätestens in der dritten Klasse werden Eltern vielerorts nervös. Sie verdonnern ihr Kind zum stundenlangen Lernen und piesacken den Lehrer - weil der Nachwuchs unbedingt aufs Gymnasium soll. Tipps für den stressfreien Umgang mit dem Thema "Übertritt".

Sabrina Ebitsch

Das erste schulische Schreckgespenst wartet spätestens in der vierten Klasse: Dann steht der Wechsel auf eine weiterführende Schule an, der in vielen Familien gleichbedeutend ist mit dem Übertritt aufs Gymnasium - zumindest, was die Erwartungshaltung der Eltern anbelangt.

Der Übertrittsdruck nimmt teils groteske Formen an: Eltern zwingen ihre Kinder zu stundenlangem Pauken, werden Lehrern gegenüber aggressiv, gehen gar vor Gericht, wenn die Noten nicht reichen. Die Atmosphäre an den Schulen werde dadurch regelrecht vergiftet, klagt der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). "Ich erkennen in dieser Übertrittshysterie einen Trend der Überbehütung gepaart mit Förderwahn, der stark zunimmt", sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands.

Die dahinter steckende Sorge der Eltern ist nachvollziehbar, wenn das Abitur immer mehr zum Standardschulabschluss wird und zugleich die Hauptschule vor allem als "Restschule" wahrgenommen wird. Viele Bildungsexperten plädieren nicht nur deswegen für ein längeres gemeinsames Lernen, ohne eine Selektion strikt nach Noten, die manche über das "Grundschul-Abitur" schimpfen lässt.

Man müsse sich endlich von diesem "unsinnigen frühen Aufteilen" verabschieden, fordert etwa Marianne Demmer, Leiterin des Vorstandsbereichs Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Durch den Stress, dem Eltern und Kinder ausgesetzt seien, werde den Schülern ein Stück Kindheit geraubt.

Nun müssen sich Eltern und Kinder aber mit dem Schulsystem arrangieren, wie es derzeit und im jeweiligen Bundesland gestaltet ist. Und da gilt in den meisten Fällen: Die Sorgen und der Stress, die sich viele selbst machen, sind übertrieben. Zum einen sollten sich Eltern die Regelungen zum Übertritt genau anschauen. In der Hälfte der Bundesländer herrscht Elternwahlrecht: Hier entscheiden die Erziehungsberechtigten, welche Schule ihr Kind nach der Grundschule besucht. In den anderen Ländern sind die Noten ausschlaggebend, was spätestens im vierten Schuljahr unweigerlich Nervosität verbreitet.

Studieren geht auch ohne Abitur

Aber selbst wenn ein Schüler an der Notengrenze - in Bayern etwa muss der Notendurchschnitt der drei Grundschulfächer 2,33 oder besser sein - scheitert, ist noch nichts verloren. Mit Prüfungen oder Probeunterricht haben auch Schüler mit schlechteren Zensuren noch eine Chance - und zwar alle, ein bestimmter Notenschnitt ist für die Teilnahme keine Voraussetzung. Sie können dann die Gymnasiallehrer in schriftlichen und mündlichen Prüfungen überzeugen, dass sie doch fürs Gymnasium geeignet sind.

Zweitens ist das deutsche Schulsystem selbst in seiner dreigliedrigen Form wie etwa in Bayern oder Baden-Württemberg durchlässiger als manche Eltern meinen. Wenn das Kind ein Spätzünder ist oder sich vielleicht an der jeweiligen Grundschule nie recht wohl gefühlt und deswegen sein Leistungspotential nicht ausgeschöpft hat, gibt es auch von der Real- oder sogar von der Hauptschule aus zwar nicht leichte, aber durchaus gangbare Wege, um zum Abitur zu gelangen und zu studieren.

43 Prozent aller, die eine Hochschulzugangsberechtigung haben, haben kein Abi, sondern beispielsweise einen Abschluss der Fachober- oder der Berufsoberschule. Und wenn es nach der vierten Klasse nicht reicht, ist ein Wechsel mit entsprechenden Noten auch nach der fünften noch möglich. "Die Schullaufbahn eines Kindes wird nicht mit Zeugnis der Grundschule entschieden", sagt Kraus. "Es gibt einen beachtlichen Anteil an Schülern, bei denen der Knoten erst später platzt."

Hinzu kommt, dass die öffentliche Wahrnehmung durch den Pisa- und den Rütli-Schock verzerrt ist: Das Gymnasium ist nicht das Nonplusultra. Zwar stehen die Hauptschulen in der Kritik und die Anforderungen an Ausbildungsplatzbewerber steigen teils. Richtig ist auch, dass sich Hauptschulabsolventen mit dem Berufseinstieg schwer tun und nur knapp die Hälfte auf Anhieb einen Ausbildungsplatz findet. Nichtsdestotrotz leisten viele Hauptschulen gute Arbeit, nur 16 Prozent gehören laut Bildungsforschern zu den leistungsschwachen.

Viele bieten neben dem Hauptschul- auch einen mittleren Schulabschluss an, der die Chancen im Berufsleben steigert, und investieren mehr Engagement in die Berufsvorbereitung ihrer Schüler und die Kontaktpflege zu lokalen Firmen. In zahlreichen Regionen, gerade in Bayern, haben Hauptschulabgänger gute Chancen auf einen Ausbildungsplatz.

Entscheidend muss jedoch letztlich das einzelne Kind sein. Es nützt nichts, einen Schüler, der seine Stärken eher im handwerklich-praktischen Bereich als im Pauken von Fachwissen hat, ans Gymnasium zu drängen, damit er von dort gescheitert und demotiviert nach zwei oder drei Jahren doch an die Real- oder Hauptschule wechseln muss.

Die Aussagekraft von Noten, erst recht wenn sie so restriktiv über die Bildungskarriere entscheiden, ist umstritten, ein Indiz sind sie aber - abhängig von den Umständen - durchaus. Kraus verweist auf den "hohen prognostischen Wert" gerade der Noten in Mathe und vor allem Deutsch: "Eine Zwei im Fach Deutsch ist schon eine kleine Bank." Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schüler es dann bis zum Abitur schaffe, sei höher.

Eltern sollten gelassener werden

Alle anderen sind aber längst nicht ungeeignet - es gibt zahlreiche Indikatoren und darüber hinausgehende Einflussfaktoren im Laufe einer Bildungskarriere. Auch Kraus fordert eine "ganzheitliche Betrachtung" des jeweiligen Schülers über die Noten hinaus. Entscheidend sind auch Arbeits- und Sozialverhalten: Ist das Kind neugierig und hat Spaß am Lernen? Zeigt es Ausdauer und Konzentrationsvermögen? Lernt und arbeitet es selbstständig und kommt auch ohne den elterlichen Zeigefinger oder Nachhilfe zurecht?

Manche Schüler sind da an Haupt- oder Realschule besser aufgehoben und werden sich dort auch wohler fühlen, weil sie Erfolg haben statt ständig das Nachsehen gegenüber Leistungsstärkeren auf dem Gymnasium.

Ein Gespräch mit dem Klassen- oder im Zweifelsfall mit dem Beratungslehrer kann helfen, die Leistungsfähigkeit des Kindes auch jenseits der Noten einzuschätzen. Lehrer können auch frühzeitig Ratschläge zu möglichen Ansatzpunkten geben.

Wenn das Kind auf der Kippe steht, helfen vielleicht schon eine gezieltere Vorbereitung auf Klassenarbeiten oder Nachjustierungen bei seinem Lernverhalten. Dabei sollte auch das Kind gefragt werden, was es will und wie es sich seine schulische Zukunft vorstellt.

Und schließlich gilt: Leistungsdruck ist leistungshemmend. Wer sein Kind zum Lernen zwingt, ihm Angst macht und allzu hohe Erwartungen aufbaut, wird das Gegenteil erreichen, weil Angst nicht nur die Gehirn- und Lernleistung blockiert, sondern Schule und Lernen damit auf Dauer negativ besetzt ist - das kann sich im Laufe einer Bildungskarriere zu einem weitaus größeren Problem auswachsen.

"Ich kann Eltern nur zu Gelassenheit raten und dazu, ihren eigenen Ehrgeiz klein zu halten und nicht auf ihre Kinder abzuladen", sagt Demmer. "Manche Schüler entwickeln sich früher und manche später. Das Wichtigste ist, dass Kinder den Eindruck haben: Meine Eltern stehen zu mir." Auch jenseits der 2,33.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: