Unterricht für Zirkuskinder:Schule auf Rädern

Circusschule

Kinder aus Zirkus- und Schaustellerfamilien führen ein Schultagebuch, damit ihre Lehrer sich ein Bild von ihrem Wissensstand machen können.

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Bereichslehrer unterrichten die Kinder von Schaustellern und junge Artisten am jeweiligen Gastspielort - in Wohnwagen oder Bussen. Heutzutage führen sie ein Schultagebuch, damit sich die Pädagogen ein Bild von ihren Kennnissen machen können.

Von Joachim Göres

"Insgesamt habe ich 584 Schulen besucht." Wer diese Zahl aus dem Mund von Soraya Senff hört, der kann zunächst so seine Zweifel bekommen. Wie soll das gehen? Die Erklärung: Senff stammt aus einer Zirkusfamilie. 1966 wurde sie im niedersächsischen Einbeck eingeschult. Dort lebte sie mit ihren Eltern in den Wintermonaten in einer Wohnung und besuchte mindestens drei Monate ihre Stammschule. Dann ging es mit dem Zirkus für Auftritte quer durch Deutschland, in die Schweiz, nach Italien und in andere Länder. In dieser Zeit wurde Senff in einer Schule im jeweiligen Gastspielort unterrichtet. Die Lehrer bescheinigten den Schulbesuch per Stempel in einem Heft, das ihr Vater angelegt hatte.

Auch heute sind Tausende Kinder die meiste Zeit des Jahres mit ihren Eltern unterwegs, die als Schausteller einen Stand auf einem Volksfest beziehungsweise Weihnachtsmarkt haben oder in einem Zirkus auftreten. Wie Senff gehen sie im Winter in ihrem Heimatort zur Schule, während der Saison besuchen sie eine Schule am Ort. Was Senff damals in den Schulen unterwegs lernte, wusste ihr Klassenlehrer in Einbeck nicht. Das ist heute anders: Die reisenden Kinder führen ein Schultagebuch, in dem der behandelte Stoff bescheinigt wird, sodass neue Lehrer sich schneller über den Leistungsstand orientieren können. Die Schüler müssen sich auch nicht immer wieder an neue Schulbücher gewöhnen, sondern arbeiten mit den Büchern aus ihrem Herkunftsbundesland. "Diese Kinder müssen viel selbständiger in der Schule arbeiten als andere Gleichaltrige", sagt Thomas Biehler. Er arbeitet zwei Tage in der Woche als Grundschullehrer in Singen, drei Tage ist er als sogenannter Bereichslehrer unterwegs. Das bedeutet, dass er zwischen Bodensee und Schwarzwald vor allem Zirkuskinder und deren Eltern betreut. Er nimmt Kontakt zu den Schulen am Gastspielort auf und steht als Ansprechpartner zur Verfügung. "Eltern haben oft Berührungsängste gegenüber Ämtern, sie nehmen meine Dienste gerne an", sagt Biehler. Dazu gehört auch der individuelle Förderunterricht im Wohnwagen - Biehler fährt im Jahr circa 4000 Kilometer, um Zirkuskinder am jeweiligen Ort zu betreuen.

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Sein Kollege Michael Widmann ist ausschließlich als Bereichslehrer unterwegs. So unterrichtete er zusammen mit Biehler und weiteren Pädagogen während des Cannstatter Volksfestes 30 Kinder von Schaustellern, von der ersten bis zur zehnten Klasse. Dazu wurden auf dem Stuttgarter Wasen-Gelände spezielle Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Ansonsten ist Widmann oft in den Wohnwagen von Schaustellern und Zirkuskünstlern zu Gast, um Kindern beim Schulstoff zu helfen. Diese oft beengte Umgebung ist nicht immer ideal. "Eine mobile Lösung wäre gut", sagt Widmann.

Mobile Lösung - damit meint er ein Modell, wie es in Hessen und Nordrhein-Westfalen praktiziert wird. Dort besuchen Bereichslehrer Zirkusse und Schausteller mit einem als Schulraum eingerichteten Kleinbus, in dem Kinder und Jugendliche bis zur zehnten Klasse unterrichtet werden. Mindestens an zwei Tagen die Woche, in der restlichen Zeit bearbeiten die Schüler selbständig Aufgaben und stehen mit dem Lehrer online in Kontakt. Im Durchschnitt kommt auf sechs Schüler ein Lehrer. "Der Vorteil dieses Modells ist, dass wir auf diese Weise feste Lerngruppen haben. Das funktioniert nur bei Zirkussen und Schaustellern, die ausschließlich in NRW unterwegs sind", sagt Claudius Höschen, der seit 16 Jahren als Lehrer für die staatlich anerkannte Schule für Zirkuskinder mit Hauptsitz in Hilden bei Düsseldorf arbeitet.

Nach seiner Erfahrung bleiben Kinder aus Artistenfamilien zu 90 Prozent im Zirkusgewerbe. Das könnte sich künftig ändern, wegen der schwierigen wirtschaftlichen Situation vieler kleiner Zirkusse. "Viele Eltern haben keinen Schulabschluss, weil sie in ihrer Jugend nicht die Chance auf eine vernünftige Ausbildung bekamen. Umso dankbarer sind sie für unsere Angebote für ihre Kinder. Sie wissen, dass die Anforderungen an ihr Gewerbe immer komplizierter werden und ihre Kinder vielleicht mal in einem anderen Beruf arbeiten müssen. Dafür ist eine gute Schulbildung hilfreich", erläutert Höschen und fügt hinzu: "Heute schaffen die meisten unserer Schüler einen mittleren Abschluss."

Jella Peschke-Holzwarth stammt aus einer Schaustellerfamilie, hat auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur gemacht, danach studiert und ist heute als Bereichslehrerin im Raum Lüneburg unterwegs. Dabei trifft sie oft auf Skepsis - gerade Sinti-Familien unter den Schaustellern fühlten sich früher oft von Lehrern diskriminiert. "Bis heute gibt es große Unterschiede von Schule zu Schule: Einige Lehrer setzen sich toll ein. In anderen Schulen werden Schausteller-Kinder eher als lästiger Störfaktor angesehen. Man kümmert sich nicht um sie, schreibt keine Lernstandsberichte für die Stammschule", sagt Peschke-Holzwarth. Sie wünscht sich für alle reisenden Kinder einheitliche Schulbücher, die in ganz Deutschland gelten.

Die zwölfjährige Celine aus der Nähe von Hannover ist mit ihren Eltern unterwegs, die auf Volksfesten Crêpes und Poffertjes in ihrem Schaustellerwagen zubereiten. "Ich werde von Mitschülern öfters gefragt, ob ich die Crêpes für sie etwas günstiger besorgen kann. Das geht nicht, aber das ist nicht schlimm, und ich finde so schnell Kontakt. Es ist erst mal aufregend, in eine neue Schule zu kommen, doch ich bin immer nett aufgenommen worden." Will sie später das Geschäft ihrer Eltern übernehmen? "Mal sehen, vielleicht. Ich will mir die Möglichkeit für etwas anderes offenhalten und erst mal studieren."

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