Turbo-Abitur:"Das ist ein Blick ins Tollhaus"

Der Streit um das achtjährige Gymnasium schwelt bundesweit. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist tief. Wie viel Zeit braucht ein gutes Abitur?

Interview von Anna Günther, Ulrike Nimz und Johann Osel

Herr Spaenle, Sie gelten als Befürworter des G-8-Modells, dem Abitur nach der zwölften Jahrgangsstufe. Bundesweit stehen Sie damit ziemlich alleine da - andere Bundesländer kehren zu 13 Schuljahren zurück, auch weil die Eltern Druck machen. Wann kippen Sie?

Ludwig Spaenle: Zuerst einmal: Ich glaube, dass Bayern sich mit seiner Gymnasial-Konzeption bundesweit sehen lassen kann. Und ja, wir schauen genau, was die anderen machen. Und das ist oft genug ein Blick ins Tollhaus. In Baden-Württemberg kehrt pro Landkreis jeweils ein Gymnasium testweise zum G 9 zurück. Die Lernzeit hängt also quasi von der Postleitzahl ab. In Niedersachsen wird derselbe Lernstoff nun wieder in neun statt acht Jahren vermittelt. Da gießt man Wasser in den Tee.

In Bayern gibt es seit September 2015 die Mittelstufe Plus. 47 Gymnasien kehren so probehalber für zwei Jahre zum G 9 zurück. Sie selbst haben das angestoßen.

Spaenle: Es ist ja auch falsch, mich als erwiesenen Gegner des G 9 hinzustellen. Ich glaube beides ist überholt, das achtjährige und das neunjährige Gymnasium. Gerade vor dem Hintergrund der wachsenden Heterogenität der Schüler - 40 Prozent eines Jahrgangs gehen mittlerweile aufs Gymnasium - und auch wegen der Zuwanderung sind wir doch damit konfrontiert, dass Schüler in unterschiedlichem Tempo lernen. In Bayern stellen wir mittlerweile an allen allgemeinbildenden Schulen mehr Lernzeit zu Verfügung. Das ist auch die Aufgabe des Gymnasiums: Schüler, die neun Jahre brauchen, um den Stoff zu verinnerlichen, sollen diese Zeit auch bekommen.

Heinz-Peter Meidinger: Ich würden den Minister gern mal was fragen: Würden Sie noch mal die Hand heben? Ich meine: Hat sich die Entscheidung, zu zwölf Schuljahren zurückzukehren, gelohnt? Haben wir den bayerischen Gymnasien damit tatsächlich einen guten Dienst erwiesen? Heute muss man doch einräumen: Dieser Weg hat in die Irre geführt. Und dazu haben wir zwölf Jahre lang vorrangig über Strukturen diskutiert. Die inhaltliche Weiterentwicklung des Gymnasiums wurde vernachlässigt, nicht nur in Bayern, sondern in allen Bundesländern.

Würden Sie sich so etwas wünschen wie in Niedersachsen? Die Rolle rückwärts?

Meidinger: Niedersachsen ist nicht unser Vorbild - da gebe ich Herrn Spaenle recht. Man kann mit einem G 9 auch die Qualität runterfahren, wir wollen das Gegenteil.

Spaenle: Sehen Sie, wir sind gar nicht so sehr überkreuz.

Meidinger: Trotzdem, die Einführung des G-8-Modells 2003 war ein Hauruckverfahren, über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Die Ablehnung hat sich seitdem sogar eher vergrößert als verkleinert. Man muss ja sehen: Damals herrschte ein anderer, neoliberaler Zeitgeist. Die Finanzminister haben nach Einsparpotenzial gesucht. Man hatte Angst, ob die Deutschen mithalten können bei der Globalisierung, weil sie angeblich so lange herumtrödeln vor dem Berufseinstieg. Roman Herzog hat seinerzeit gesagt: Das 13. Schuljahr ist gestohlene Lebenszeit. Heute wissen wir: Das stimmt so nicht. Reife, Persönlichkeitsentwicklung und Bildung brauchen eben Zeit.

Heinz-Peter Meidinger

"Ich glaube nicht, dass die meisten Schüler kurz vor dem Burnout stehen."

Herr Spaenle, an den 47 Pilotschulen entscheiden sich im Schnitt 60 Prozent der Schüler für die Mittelschule Plus, fürs nächste Jahr haben sich fast 70 Prozent angemeldet. Das ist doch ein klares Zeichen für die Rückkehr zu neun Jahren.

Spaenle: Genauso gut könnte man sagen, 40 Prozent wollen lieber nach acht Jahren das Abitur ablegen. Wir brauchen ein flexibles Modell, und dazu benötigen wir Zeit.

Ist das gedrosselte Tempo jetzt die Lehre daraus, dass Sie bei der Einführung von G 8 mitgaloppiert sind?

Spaenle: Ich will schon eine Art Gegenentwurf und werde niemanden überrumpeln.

Sie sehen es also ein. Und was sagen Sie Eltern, denen die Entscheidungsfindung zu lange dauert?

Spaenle: Meine Gespräche mit Elternvertretern waren immer sehr konstruktiv. Ich habe keine Ungeduld gespürt. Die notwendige Zeit nehmen wir uns jetzt einfach. Wir können die Auswertung der 47 verschiedenen Mittelstufe-Plus-Konzepte jetzt beginnen, und das ist nicht so einfach. Herr Meidinger, Sie leiten selbst eine Pilotschule und wissen, wovon ich rede. Wir müssen schauen, welches Modell wir vorschlagen.

Groebenzell: Schueler des Gymnasiums beim Mathe-Abitur in der Schulturn-Halle

Motivieren mit Megafon: Schüler des Gymnasiums Gröbenzell schreiben das Mathe-Abitur in der Schulturnhalle.

(Foto: Johannes Simon)

Und wenn Horst Seehofer nun einfällt, dass es schneller gehen muss?

Spaenle: Ich weiß, dass der Ministerpräsident Interesse an dem Thema hat, und das freut mich. Aber die Testphase der Mittelschule Plus ist ja noch nicht einmal zur Hälfte vorbei. Noch mal: Wir werden niemanden überrumpeln.

Meidinger: Ich habe ja Sympathie dafür, dass man sich alles genau anschaut und keine vorschnelle Lösung will. Aber auch Bayern wird das Rad nicht neu erfinden. Ich will aber keine Lösung, mit der wir wieder zehn Jahre Unruhe an den Gymnasien haben. Wir erleben das derzeit in Hessen. Dort gibt es Schulen, die zwölf Jahre anbieten, Schulen, die dreizehn Jahre anbieten und Schulen, die beides anbieten. Das bringt große Verunsicherung und Ärger an die Einzelschule sowie in die Kommunen, die für den Unterhalt der Schulen zahlen müssen. Meine dringende Bitte wäre, ein Modell zu finden, das auf Dauer angelegt ist und Ruhe einkehren lässt. Die Mittelstufe Plus kann eine gute Basis für eine allgemeine G-9-Lösung sein. Allerdings hat sie neben der komplizierten Organisation des Parallelbetriebs aus drei und vier Jahren in der Mittelstufe weitere Webfehler: In der Mittelstufe haben sie keinen Nachmittagsunterricht, in der Unter- und Oberstufe schon. Auch dass die mittlere Reife ausgerechnet am Gymnasium in der Mittelstufe Plus erst nach elf statt nach zehn Jahren vergeben wird, ist ein Unding.

Ihre kritische Sicht teilen viele Lehrer und Eltern. Was läuft bei Ihnen an Beschwerden auf?

Meidinger: Man muss auch ehrlich sein. Es ist üblich geworden, dass man für alles, was an der Schule schiefläuft, die Schulreform verantwortlich macht. Nicht immer, wenn ein Kind den Anschluss verliert, liegt es daran, dass es den Stoff nun in zwölf statt in 13 Jahren lernen soll.

Spaenle: Das nennt man Prügelknabe!

Meidinger: Ich glaube auch nicht, dass die meisten Schüler kurz vor dem Burn-out stehen. Aber die Lehrpläne sind bei der Umstellung aufs G 8 gekürzt worden. Dabei gingen wichtige Inhalte verloren - das kann und muss man hinterfragen.

Ludwig Spaenle

"Klare Ansage aus Bayern: Bleibt's bei euren Leisten!"

Spaenle: Wie man's macht, macht man's verkehrt. Wir haben in Bayern die Qualität des Abiturs erhalten. Ist es letztlich nicht wichtig, dass ich in einem bestimmten Fach zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Kompetenz erlangt habe? Ich finde das ebenso wichtig wie das Ziel, bis zum Ende der 10. Klasse möglichst viel Cicero gelesen zu haben.

Es gibt durchaus die Auffassung, durch das Eindampfen der Lerninhalte habe das Gymnasium an Niveau verloren.

Spaenle: Ja, bin ich jetzt im falschen Film?

Meidinger: Das Abitur wird einem auch heute nicht geschenkt. Aber natürlich gibt es das Phänomen der Noteninflation, in anderen Ländern noch mehr als in Bayern. Für dieselbe Leistung gibt es heute bessere Noten als noch vor zehn Jahren. Das kann man statistisch nachweisen. Trotzdem muss man die Frage des Niveauverlusts differenziert sehen: Die stärkere Betonung des Mündlichen hat dazu geführt, dass die Schüler sich heute viel besser präsentieren und Inhalte aufbereiten können. Auf der anderen Seite haben wir durchs G 8 ein paar Hundert Unterrichtsstunden in den modernen Fremdsprachen, in Deutsch und Mathematik für Übung und Vertiefung verloren. Es ist natürlich illusorisch zu glauben, man könnte das alles durch Konzentration und Straffung auffangen.

Hinzu kommt, dass immer mehr Kinder das Gymnasium besuchen. Führt Massenbetrieb nicht unweigerlich zur Entwertung des Abiturs?

Spaenle: Höre ich da elitäre Töne? Das finde ich schon bemerkenswert, dass jemand, der die vermeintlich böse CSU repräsentiert, hier ein Plädoyer für Chancengleichheit halten muss. Kinder, die für das Gymnasium geeignet sind, sollen auch aufs Gymnasium gehen. Natürlich haben wir in den Ballungsräumen, also dort, wo die Jobs sind, einen doppelten Effekt. Erstens: Zuzug. Zweitens: Zuzug von Bevölkerung mit überproportionalem Bildungsanspruch. Das ist eine Herausforderung. Aber die Antwort darauf kann nicht sein, dass wir die Hürden für die Schüler verändern. Die Qualität muss gleich bleiben. Wir müssen eher deutlich machen, dass nicht nur das Abitur gute Chancen und gesellschaftliche Anerkennung bringt.

Bundesbildungsministerin Johanna Wanka warnte einmal vor einem Rücksturz ins G 9 .

. . Spaenle: Ich bin mit Frau Wanka politisch sehr eng unterwegs, aber in dem Punkt muss ich sagen: Eine solche Äußerung steht ihr nicht zu, das ist Ländersache. Klare Ansage aus Bayern: Bleibt's bei euren Leisten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: