Türkei:Ausgetauscht

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Ein Rückgang von 60 Prozent, in nur einem Jahr: Immer weniger Studenten aus Deutschland wollen Erasmus-Semester in der Türkei verbringen.

Von Christine Prußky

Pierre Hecker gibt nicht auf. Vor wenigen Tagen ist der Marburger Islamwissenschaftler in die Türkei gereist, um neue Kooperationsabkommen mit zwei Unis zu schließen. Klappt das, könnten Studenten des Marburger Bachelorstudiengangs Nah- und Mitteloststudien künftig vor Ort Türkisch lernen. Nur: Wollen die das auch? Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 stecken die Beziehungen zur Türkei nicht nur politisch im Tief. Die massive Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit unter Staatspräsident Erdoğan hat in den Hochschulen Misstrauen und Angst gesät. Dazu kommt die Terrorgefahr. Auch sie trägt dazu bei, dass die Türkei als Ziel für Studenten stark an Attraktivität verloren hat.

Nach Schätzungen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) muss das Land einen Rückgang der internationalen Erasmus-Studenten von 60 Prozent hinnehmen. Deutschland trägt dazu bei. An der TU München sackte die Zahl der Studenten, die in die Türkei gehen, binnen zwölf Monaten von 36 auf neun ab. Die Uni Duisburg-Essen meldet einen Rückgang von 74 auf 45, die Berliner Humboldt-Universität schickte statt 55 nur noch 21 Studenten. "Wir haben es ganz klar mit einer Zäsur zu tun", sagt Hecker.

Soll der DAAD überhaupt noch mit der Türkei kooperieren? Wo beginnt die "rote Linie"?

DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel sieht sich mit Blick auf die Türkei schon länger zu einem diplomatischen Seiltanz gezwungen, den sie aus der Beziehungspflege mit Staaten wie Kuba oder dem Iran kennt. Die Übung nennt Wintermantel "smart diplomacy": "Wir unterscheiden einerseits zwischen dem, was in offiziellem Rahmen auf politischer Ebene gesagt werden kann und muss. Andererseits gibt es Möglichkeiten, in vertraulichen Gesprächen auf Arbeitsebene alternative Wege zum Austausch zu entwickeln." Wie genau diese alternativen Wege aussehen, ist unklar. Türkische Wissenschaftler dürfen ihr Heimatland nur mit einer Ausreiseerlaubnis verlassen. Und ausländische Forscher brauchen für einen Aufenthalt ab drei Monaten eine Erlaubnis vom Obersten Hochschulrat YÖK. So kontrolliert die Regierung die akademische Mobilität in beide Richtungen.

Immerhin: Kurzbesuche, wie sie Pierre Hecker gerade absolviert hat, sind möglich. Noch. Hecker hofft darauf, dass der DAAD zügig "geschützte Räume" schafft, in denen "freie Wissenschaft stattfinden kann". Einen Schritt weiter geht Silvia von Steinsdorff. Wie Hecker arbeitet sie aktuell in einem von der Stiftung Mercator geförderten Projekt mit türkischen Kollegen. Vom DAAD erwartet die Berliner Demokratieforscherin "ein klares Wort" gegenüber dem YÖK, dass zur Wissenschaftsfreiheit auch die Freiheit der Lehre gehört. Und stellt zugleich die Frage, ab wann eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich ist: "Wo ist die rote Linie?" Wintermantel hält sie bei Freiheitsberaubung und Gewaltandrohungen gegenüber deutschen Wissenschaftlern für erreicht. Von Steinsdorffs Antwort sieht anders aus: "Wenn eine Fortsetzung der Kooperation nur noch um den Preis des Schweigens und Wegschauens möglich ist, dann ist für mich die rote Linie erreicht."

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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