Studium:"Wir wissen doch eh schon alles!"

Studium: In der Gedenkstätte in Dachau steht das KZ-Tor mittlerweile in einer Glasvitrine

In der Gedenkstätte in Dachau steht das KZ-Tor mittlerweile in einer Glasvitrine

(Foto: Toni Heigl)

Das hört Deutschlands erste Holocaust-Professorin häufig. Sie hält dagegen. Ein Gespräch über das Nichtvergessen und ihren Herkunftsort - Dachau.

Interview von Matthias Kohlmaier

Den Zungenschlag ihrer oberbayerischen Heimat hört immer noch deutlich heraus, wer sich mit der Historikerin Sybille Steinbacher unterhält - und das, obwohl sie in den vergangenen Jahren in Bochum, Jena und Wien geforscht und gelehrt hat. Zum 1. Mai hat Steinbacher nun eine neue Stelle angetreten, an der Goethe-Uni Frankfurt ist sie Inhaberin des bundesweit ersten Lehrstuhls für die Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust. Zudem ist sie Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts (Informationen über dessen Namensgeber finden Sie hier).

SZ: Frau Steinbacher, Sie forschen seit Jahrzehnten zur Geschichte des Holocaust. Was bedeutet es Ihnen, dass Sie nun einen eigens darauf zugeschnittenen Lehrstuhl übernehmen können?

Sybille Steinbacher: Ich habe mich intensiv mit der NS-Zeit und dem Holocaust, außerdem mit vergleichender Genozid-, Gewalt- und Diktaturforschung im 20. Jahrhundert und mit der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik beschäftigt. In anderen Ländern gibt es Lehrstühle zum Themenfeld Holocaust schon länger. Dass nun die Goethe-Uni Frankfurt am Main einen solchen Lehrstuhl einrichtet, halte ich für eine wichtige politische und wissenschaftspolitische Errungenschaft; für mich persönlich und für meine Forschung ist das ein Glücksfall.

Welches Ziel verbinden Sie mit der neuen Stelle?

Mir geht es darum, die Arbeit des Fritz-Bauer-Instituts, dessen Leitung ich ebenfalls übernommen habe, mit dem Lehrstuhl zu verknüpfen.

Was heißt das konkret?

Das Institut, das seit 1995 besteht, arbeitet zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Es hat mit seinen Veranstaltungen und Publikationen einen starken Bezug zur Öffentlichkeit und steht dafür, die Debatte um den Holocaust in die Öffentlichkeit zu tragen. Dorthin, wo sie auch geführt werden muss. Diese Aufgabe möchte ich fortführen und zugleich die Forschung stärken. Gerade Provokationen von Rechtspopulisten zeigen, wie wichtig die Beschäftigung mit der NS-Zeit in Deutschland noch immer ist. Man hört oft: Jetzt reicht es aber auch mal, wir wissen doch eh schon alles! Aber erstens stimmt das nicht und zweitens darf dieses Thema nicht von der Agenda verschwinden. Weder in der Geschichtsforschung noch im gesellschaftlichen Diskurs.

Wie wollen Sie dazu als Hochschullehrerin beitragen?

Zum einen durch Forschung und Lehre zu den einschlägigen Themen, zum anderen durch den Blick auf die Gegenwartsrelevanz der Themen und schließlich durch die öffentliche Diskussion.

Welche Lehrveranstaltungen werden Sie dazu im kommenden Wintersemester anbieten?

Ich werde beispielsweise ein Seminar über die Rolle des Zeitzeugen in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust anbieten. Dabei geht es unter anderem um die Bedeutung der Überlebenden der Verbrechen für die Aufarbeitung der NS-Geschichte. Das wird angelegt sein von der unmittelbaren Endphase des Krieges, wo in Polen schon erste Überlebende erzählt haben, wie es ihnen ergangen ist, bis in die Gegenwart. Zeitzeugen waren spätestens ab den 60er, 70er Jahren sozusagen der Stachel im Fleisch der westdeutschen Gesellschaft. Sie haben gegen das Vergessen angekämpft, weshalb ich ihre Rolle auch aus politischer und gesellschaftlicher Sicht wichtig finde.

"NSU oder Rechtspopulismus bieten Anknüpfungsmöglichkeiten"

Sie stammen aus der Nähe von Dachau, wo im Dritten Reich das erste Konzentrationslager entstand. Inwiefern hat Ihre Herkunft Sie als Forscherin geprägt?

In der Zeit nach meinem Abitur gab es in Dachau eine sehr hitzige Auseinandersetzung um den Bau einer Jugendbegegnungsstätte. Dachau könne doch nicht die historische Last der ganzen Nation tragen, haben die Gegner des Baus gesagt. Die Befürworter haben darin eine Chance gesehen, die sie unbedingt nutzen wollten, um eine offene Diskussion über den Umgang mit der NS-Zeit zu führen. Dieser Streit hat mich sehr geprägt. Ich habe mich später in meiner Magisterarbeit mit der Nachbarschaft von Stadt und Lager beschäftigt: Welche Reaktionen gab es auf den Bau des KZ? Wie ist die Bevölkerung, wie sind die lokalen Behörden in der NS-Zeit damit umgegangen? Das war mein Einstieg in die Thematik. In meiner Dissertation habe ich mich später mit dem sozialen Umfeld des KZ Auschwitz beschäftigt.

Sind diese beiden Lager, Dachau und Auschwitz, auch in Forschung und Lehre die relevantesten?

Da kann man kein Ranking erstellen. Über beide Lager wissen wir viel, weniger noch über die Lager der sogenannten Aktion Reinhardt in Sobibor, Treblinka und Belzec, die noch mehr in den Fokus der Forschung und auch der Lehre genommen werden könnten.

Warum ist das bis dato nicht passiert?

Die Recherche ist schwierig, weil es in den drei Lagern nur wenige Überlebenden gegeben hat, kaum jemand konnte die Geschichte dazu erzählen. Deshalb sind die Vernichtungslager ein wenig an den Rand der Wahrnehmung gerückt. In Auschwitz dagegen gab es eine Reihe geglückter Fluchtversuche, so dass geflohene Häftlinge später aus erster Hand erzählen konnten, was sich dort zugetragen hatte.

Wo sehen Sie die Holocaustforschung in der Zukunft, welche Themengebiete werden eine zentrale Rolle einnehmen?

Die Forschung hat sich zuletzt immer weiter ausdifferenziert und auf zum Teil kleine Aspekte fokussiert. Wenngleich das auch wichtig ist, denke ich, dass wir die große Frage nicht außer Acht lassen dürfen: Wie konnten diese Verbrechen überhaupt möglich werden? Da gibt es bis heute kaum hinreichende Antworten.

Der Holocaust als gesellschaftlicher Prozess.

Genau. Die Geschichtsforschung muss zum Beispiel herausfinden, wie die Entrechtung von Juden genau abgelaufen ist und möglich wurde. Was waren das für Menschen, die auf Versteigerungen Mobiliar von deportierten Juden für kleines Geld gekauft haben? Da lässt sich aus Tagebüchern und Briefen wohl noch einiges herausfinden.

Wie erleben Sie die Studierenden bei Lehrveranstaltungen zu dem Thema?

Als sehr interessiert. Es geht mir darum, das Geschehen in den historisch-politischen Kontext einzubinden und den Studierenden deutlich zu machen, wie wichtig das ist. Viele möchten möglichst viel darüber erfahren.

Was wollen Sie dabei unbedingt vermitteln?

Wichtig ist es, den Gegenwartsbezug im Blick zu haben. Die Verbrechen des NSU oder der aufkommende Rechtspopulismus der vergangenen Jahre bieten viele Anknüpfungsmöglichkeiten, um die NS-Geschichte in aktuelle gesellschaftliche und politische Debatten einzubetten.

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