Schulreform:Angriff aufs Allerheiligste

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Winfried Kretschmann liegt im Bildungsstreit mit der eigenen Koalition. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Die Pläne der grün-roten Regierung in Stuttgart zu einer Reform der Gymnasien empören alle - auch die Koalition selbst.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Es gehört zum Handwerk der Politik, die richtigen Debatten anzustoßen. Die politische Kunst aber besteht darin, die richtigen Debatten zur richtigen Zeit anzustoßen. So gesehen hat die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg samt der sie stützenden Landtagsfraktionen gerade grandios gepfuscht. Zehn Monate vor der Wahl können CDU und FDP mit der Frage Stimmung machen: Wollen sie jetzt auch noch das Gymnasium abschaffen, die grünen und roten Ideologen? Und das alles, weil ein durchaus bedenkenswertes Zukunftspapier zur Unzeit an die Öffentlichkeit gelangt ist.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusminister Andreas Stoch (SPD) legten am Dienstag ein Glaubensbekenntnis zum Gymnasium ab, um die Debatte einzufangen. Stoch sprach von "Hysterie", Kretschmann sagte: "So geht's wirklich nicht." Bemerkenswerterweise zielten beide vor allem auf die eigenen Fraktionen. Denn Grüne und SPD hatten sich tags zuvor von dem Papier "Gymnasium 2020" distanziert, das im Auftrag des Kultusministeriums erstellt worden war und seit Sommer 2014 intern debattiert wird. Es geht im weitesten Sinne darum, den Schülern den Übergang in die Klassen 11 und 12 zu erleichtern. Der Berufsschullehrerverband machte das Papier publik, die Opposition schimpfte: Angriff aufs Allerheiligste. Die Regierungsfraktionen bekamen kalte Füße. Und der Eindruck entstand, Grün-Rot habe etwas zu verbergen.

"Angstbesetzt" sei das Thema eben, sagte Kretschmann erstaunlich ehrlich. Er erinnerte an den Hamburger Volksentscheid im Jahr 2010. Damals scheiterte der Plan der schwarz-grünen Regierung, eine sechsjährige Primarschule statt der vierjährigen Grundschule einzuführen. Gymnasium erst ab der 7. Klasse? Nicht mehrheitsfähig. Kretschmann hat immer wieder erklärt, einen Angriff aufs Gymnasium werde niemand politisch überleben. "Das deutsche Bildungsbürgertum liebt das Gymnasium", sagte er am Dienstag mit einem wirklich nur ganz leichten ironischen Unterton und fügte hinzu: "Wir teilen diese Liebe." Gerade deshalb müsse es erlaubt sein, über Reformen nachzudenken.

Kretschmann prangert immer wieder die "Fehlervermeidungskultur" in der Politik an. Diesmal bezog er den Begriff auf die Abgeordneten der Regierungsfraktionen. Der Regierungschef empfahl ihnen einen gelassenen Umgang mit solchen Debatten. Aber das ist leichter gesagt als getan auf diesem Minenfeld der baden-württembergischen Politik.

Die zehnte Klasse soll der Oberstufe zugeschlagen werden

Einführung der Gemeinschaftsschule. Reform der Realschule. Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Einstieg in Ganztagsbetreuung und Inklusion. Ganz zu schweigen von den Bildungsleitlinien mit dem Aufreger "sexuelle Vielfalt". Es gibt kaum ein Thema, das Grün und Rot seit Regierungsantritt 2011 nicht angepackt hätten. Erschwerend kommt hinzu, dass Stochs Vorgängerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) reichlich chaotisch regierte. Sie trat Anfang 2013 auf Druck der Regierungsfraktionen zurück. Andreas Stoch, Jurist aus Heidenheim, hat es seither verstanden, die Gemüter zu beruhigen. Zuletzt paukte er die Reform der Realschulen durch, die künftig auch den Hauptschulabschluss anbieten und dafür mehr Geld und Lehrer erhalten. Die Umfragewerte werden langsam besser, doch die Unzufriedenheit mit der Bildungspolitik ist immer noch groß. Und doch hat Stoch offenbar die Sprengkraft des Themas Gymnasium unterschätzt.

Die Arbeitsgruppe dazu hatte noch seine Vorgängerin eingesetzt. Vertreter von Eltern, Schülern, Lehrer waren darin vertreten, ihre Anregungen liegen dem Minister seit Sommer 2014 vor. Die Schüler sollen pädagogisch besser betreut werden und deshalb ein Coaching erhalten. Klasse 10 soll der Oberstufe zugeschlagen werden - auch, um Real- und Gemeinschaftsschülern den Übertritt zu erleichtern. Was für sich genommen sinnvoll erscheint, lässt sich im Paket für parteipolitische Zuspitzung verwenden: Werden hier die Anforderungen gesenkt, durch die Hintertür Gemeinschaftsschulen einzuführen? Die grüne Jugend in Baden-Württemberg fordert ja immer noch "eine Schule für alle". Stoch hätte das Papier sofort offenlegen und Stellung beziehen können. Stattdessen debattierte er es intern mit Regierungsfraktionen und Verbänden. So verpasste er die Chance, Herr des Verfahrens zu bleiben. Nun muss Grün-Rot seine Position im Gegenwind klären.

© SZ vom 06.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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