Schulpädagogik-Professor über Lehrer:"Es muss auch mal hart zugehen"

Schulen - Lehrer

Der emeritierte Pädagogik-Professor Hilbert Meyer ist sich sicher, dass Lehrer auch im Zuge der Digitalisierung gebraucht werden.

(Foto: dpa)

Fast 35 Jahre lang war Hilbert Meyer bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor für Schulpädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Durch viele Veröffentlichungen - aktuell ist der Band "Unterrichtsentwicklung" erschienen - ist der 73-Jährige auch heute noch in Lehre und Forschung präsent.

Interview von Matthias Kohlmaier

SZ.de: Herr Meyer, Sie waren selbst Lehrer und forschen seit mehreren Jahrzehnten zum Thema Schulpädagogik. Wie hat sich der Beruf in dieser Zeit verändert?

Hilbert Meyer: Wenn ich an meine Zeit als junger Lehrer vor 50 Jahren zurückdenke, hat sich eine Menge getan. Vor 30 Jahren wurde reichlich spät entdeckt, wie wichtig es ist, die Mädchen zu stärken - heute kippt das ein bisschen in Richtung spezielle Jungenförderung. Die größte Baustelle heute: Alle sollen inklusiv und möglichst kompetenzorientiert unterrichtet werden, obwohl es die didaktischen Konzepte dafür erst ansatzweise gibt. Hinzu kommt ein kontinuierlich zunehmender Anteil von Organisationskram, von Dokumentations- und Abstimmungspflichten. Vor 50 Jahren war Teamarbeit in meinem Kollegium überhaupt kein Thema; es gab keine Bildungsstandards und keine Förderkonferenzen, usw. Zusammengefasst: Die Lehrerarbeit ist erheblich komplexer geworden.

Macht das den Lehrerberuf unattraktiver?

Nein, es ist nach wie vor ein schöner und erfüllender Beruf. Ein amerikanischer Kollege hat einmal gesagt: "Lehrer sind Weltmeister im Komplexitätsmanagement." Richtig! Und das muss nicht automatisch belasten. Belastend wird es erst, wenn die Chemie im Kollegium nicht stimmt, wenn die Schulleitung keine Rückendeckung gibt und wenn man gegeneinander arbeitet, statt am selben Strick in dieselbe Richtung zu ziehen.

Hat die Lehrerausbildung mit der gestiegenen Komplexität des Berufs Schritt gehalten?

Nein, leider nicht. Schauen wir uns die neuralgischen Punkte des Lehrerberufs an: Umgang mit schwierigen Schülern, Arbeit mit Schülern, die die deutsche Sprache kaum oder schlecht beherrschen, Umgang mit Helikoptereltern, die alles unter Kontrolle behalten wollen, und mit Phantomeltern, die man nie zu Gesicht bekommt. Gerade auf diese sozialpädagogischen Anteile des Berufs bereitet das Studium zu wenig vor. Dann braucht man sich auch nicht zu wundern, dass sich ein kleinerer Teil der Lehrer einfach wegduckt und nicht alles an sich herankommen lässt.

Wie könnte man steigendem Stress und hohen Arbeitszeiten begegnen?

Die Arbeitszeiten der Lehrer unterscheiden sich kaum von anderen akademischen Berufen. Entscheidend ist die Belastung während der Arbeitszeit, die ist sehr hoch. Deshalb bin ich für eine radikale Lösung. Die Schulen sollten selbst darüber entscheiden, wie die Arbeitszeit, die die Lehrer für ihr Gehalt abzuleisten haben, genutzt wird. Ergebnis könnte eine Entkopplung von gehaltenen Unterrichtsstunden und bezahltem Gehalt sein. Lehrer, die schwierige und arbeitszeitintensive Klassen zu betreuen haben oder die viel für die Schul- und Unterrichtsentwicklung tun, könnten gerechter entlastet werden. Aber die Umsetzung dieser Idee erfordert so viele Veränderungen im Beamtenrecht, dass zeitnah leider nicht damit zu rechnen ist.

Was müsste sich verändern, damit angehende Pädagogen besser auf die Berufsrealität vorbereitet werden können?

Ich würde die pädagogischen und fachdidaktischen Anteile in der Erstausbildung deutlich erhöhen - so, wie wir dies an der Uni Oldenburg vor 40 Jahren mit großem Erfolg im Modellversuch zur Einphasigen Lehrerbildung getan haben. Insgesamt ist die immer heterogener werdende Schülerschaft das Hauptproblem, dem sich die Lehrerausbildung deutlicher stellen muss. Insbesondere die zukünftigen Gymnasial- und Realschullehrer müssen darauf besser vorbereitet werden. Die Inklusion verschärft das Problem. Es gibt zwar erhebliche Anstrengungen, das Thema in der Aus- und Fortbildung zu etablieren. Aber das reicht lange noch nicht.

Die fachliche Ausbildung der Lehrer würden Sie also nicht verändern?

Meyer: Nein, zumindest nicht grundsätzlich. Fachlich sind deutsche Lehrer im internationalen Vergleich top ausgebildet. Vor allem die Gymnasiallehrer stehen gut da. Aber die Grund- und Hauptschullehrer sollten nachziehen können, indem sie gleich gut und gleich lange fachlich ausgebildet werden. Das hätte den wünschenswerten Nebeneffekt, dass es ein gemeinsames Ausgangsgehalt geben kann.

In Ihrem neuen Lehrbuch "Unterrichtsentwicklung" schlagen Sie eine dreiteilige Zielformel für gelingenden Unterricht vor. Was erwarten Sie von Deutschlands Lehrern?

Unterricht soll von gegenseitigem Respekt zwischen Lehrern und Schülern getragen sein. Nur dann können sie ein Arbeitsbündnis schließen - die Voraussetzung für jeden Lernerfolg. Annedore Prengel von der Uni Potsdam hat mehr als 6000 Lehrer-Schüler-Interaktionen analysiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass in einem Viertel der untersuchten Situationen die Beteiligten nicht ausreichend respektvoll miteinander umgegangen sind. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich an Deutschlands Schulen jedoch in Sachen Respekt bereits viel getan. Wenn ich an meine eigene Schulzeit denke - viele dieser Lehrer würden heute riesige Probleme bekommen.

Was Lehrer künftig können müssen

Sie fordern zudem Unterricht nach demokratischen Prinzipien.

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit für eine demokratische Republik, aber sehr schwer umzusetzen. Ich war schon oft in China im Schulunterricht und stelle fest: Der dort gegebene Unterricht ist in didaktisch-methodischer Hinsicht häufig auf hohem Niveau. Nicht zufällig liegt Shanghai bei der Pisa-4-Studie aus dem Jahr 2009 in allen getesteten Bereichen auf dem Spitzenplatz. Aber eine demokratische Beteiligung an didaktischen Entscheidungen und die Aufforderung zur Kritik der gelehrten Inhalte spielt noch kaum eine Rolle. Da sind wir in Deutschland in vielen Kollegien weiter. Und deshalb ist der sehr gute chinesische Unterricht nach meinen Maßstäben nicht wirklich gut.

Kann der Frontalunterricht, der in Deutschland immer noch in hohem Umfang praktiziert wird, überhaupt demokratisch sein?

Mit Abstrichen: ja. In meinem Buch unterscheide ich drei Grundformen des Unterrichts: die direkte Instruktion, was im Prinzip dem Frontalunterricht entspricht, den individualisierenden Unterricht, der insbesondere an Grundschulen als Wochenplanarbeit praktiziert wird, und den kooperativen Unterricht, etwa in Form von Projektarbeit. In der direkten Instruktion, in der die Lehrer weitgehend die Wissensvermittlung übernehmen, wird nicht abgestimmt - aber die Schüler sollten immer wieder kritische Rückfragen stellen können und die Möglichkeit haben, eine Gegenposition zum gelehrten Stoff einzunehmen. In den anderen beiden Grundformen können die Schüler lernen, selbstorganisiert und solidarisch zu arbeiten.

Lehrer müssen Widerspruch ertragen können?

Natürlich. Zur Hochzeit der Studentenrevolte habe ich zu meinen Studenten an der Uni Oldenburg, damals im Übrigen eine politisch sehr linke Uni, gesagt: "Ihr müsst so unterrichten, dass auch die Kinder von Franz Josef Strauß etwas davon haben und nicht isoliert werden." Das fand nicht nur Zustimmung.

Fehlt noch der dritte Punkt Ihrer Zielformel.

Unterricht muss effizient gestaltet werden. Anders formuliert: Das Verhältnis von Aufwand und Ertrag sollte stimmen. Die Schüler müssen lernen, ökonomisch mit ihrer Lernzeit umzugehen und Verantwortung für den eigenen Lernfortschritt zu übernehmen. Deshalb ist "Metaunterricht" erforderlich, in dem die Schüler das eigene Lernen reflektieren.

Aber die Lehrer sind doch an den Lehrplan und weitere Richtlinien gebunden?

Sie haben dennoch das Recht und die Pflicht, die Lehrpläne im Blick auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Schüler kreativ auszulegen Das habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Das hat der niedersächsische CDU-Kultusminister Werner Remmers schon vor 35 Jahren gesagt.

Für das Erreichen Ihrer drei Ziele scheint es notwendig zu sein, dass sich die Lehrer mehr zurücknehmen, weniger postulieren und mehr zulassen.

Darauf antworte ich mit einem eindeutigen Jein. Im Frontalunterricht ist es völlig in Ordnung, wenn sich der Lehrer nicht zurücknimmt. Aber dass dieser Frontalunterricht an deutschen Gymnasien bis heute um die 80 Prozent der gesamten Unterrichtszeit einnimmt, ist nicht akzeptabel. Schon eine Reduzierung des Anteils von 80 auf 50 Prozent käme an vielen Schulen einer Palastrevolte gleich! Mittelfristig sollte überall Drittelparität zwischen den Grundformen angestrebt werden. Es gibt schon heute viele Schulen, die das erreicht haben und respektable Lernerfolge vorweisen können.

Wie sehen die künftigen Herausforderungen für die Lehrer aus? Was müssen sie können und was vielleicht bleiben lassen?

Sie müssen lernen, unterschiedliche Rollen einzunehmen. Sie sollten zudem von der Vorstellung wegkommen, alle Inhalte selbst vermitteln zu wollen. Dieser Anspruch wird durch die Digitalisierung der Medien hinfällig werden und ist es teilweise jetzt schon. Die digitale Welt ist einfach da und die Frage ist nicht ob, sondern wie die Schule damit angemessen umgeht. Wichtiger wird es dementsprechend, den Schülern die Kriterien für korrektes fachliches Arbeiten beizubringen, damit sie nicht beliebige Wikipedia-Inhalte kopieren. Die kritische fachliche Auseinandersetzung lässt sich nicht durch elektronische Medien ersetzen.

Die Digitalisierung wird also nicht das Gros der Lehrer den Job kosten?

Mit Sicherheit nicht. Darauf verwette ich mein Haus!

Welchen Rat würden Sie einem jungen Menschen geben, der heute neu in den Lehrerberuf einsteigt?

Generell würde ich sagen: Es ist wichtig, mit den Schülern ein Arbeitsbündnis zu schließen und ein lernförderliches Klima herzustellen. Das ist etwas anderes als Kuschelpädagogik. Es kann und muss auch mal hart zugehen, wenn die vereinbarten Rechte und Pflichten nicht geachtet werden. Mein Symboltier für den Lehrerberuf ist deshalb der Igel: im Herzen pazifistisch, aber zur Not verteidigungsbereit.

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