Bildung in Afghanistan:Afghanische Schülerin: "Unser Hirn ist auch nicht kleiner"

An Afghan boy walks past a billboard encouraging girls to go to school in Kandahar City

Mit Werbetafeln, hier in der Nähe von Kandahar, werden Mädchen zum Schulbesuch ermutigt. Doch viele Kinder müssen einen Teil des Familieneinkommens miterwirtschaften.

(Foto: Nikola Solic/Reuters)

Die USA und ihre Verbündeten sind vor 15 Jahren in Afghanistan einmarschiert - und haben eine bessere Bildung versprochen. Was ist daraus geworden?

Von Tobias Matern und Aimal Yaqubi

Sitara hat ein Ziel, aber manchmal ist sie sich nicht sicher, ob es sich dabei um ein Hirngespinst handelt. Eigentlich weiß das Mädchen genau, was es später werden will: "Ich möchte Jura studieren und Richterin werden, aber als ich das manchen Menschen erzählt habe, war ich verwundert, wie sie reagiert haben." In ihrem Umfeld heißt es: Das kannst du vergessen, diesen Gedanken musst du verwerfen. "Unser Leben beschränkt sich auf das Haus und die Schule", sagt Sitara.

15 Jahre ist Sitara alt, sie geht in die elfte Klasse der Zarghoona-Schule in Kabul. Das ist eine von der Regierung mit westlichem Hilfsgeld betriebene, für afghanische Verhältnisse ganz normale Einrichtung. Im Leben der Schülerin Sitara ist allerdings wenig normal. Wenn das Mädchen über ihren Alltag spricht, klingt das so: "Die Sicherheitslage hat negative Auswirkungen auf unser Leben, die Polizei schafft es nicht, Jungs davon abzuhalten, uns auf dem Weg zur Schule zu belästigen. Es ist auch nicht sicher für uns, in die Schule zu gehen, überall gibt es Selbstmordanschläge. Es gab schon viele Warnungen, dass unsere Schule angegriffen werden soll, wir alle sollten die Schule dann sofort verlassen." Passiert ist dem Mädchen bislang nichts. Aber gewiss ist in Sitaras Leben nur die Ungewissheit.

2001 ist sie geboren worden, in dem Jahr, als das westliche Militär nach den Anschlägen vom 11. September in Afghanistan einmarschierte und die Taliban stürzte. Damals machten die USA und die Verbündeten den Afghanen blumige Versprechen. Dem rückständigen Land am Hindukusch wurde eine stabile Zukunft prophezeit. Fast alle Ziele hat der Westen meilenweit verfehlt, zum Beispiel: funktionierende staatliche Strukturen aufzubauen, eine tragfähige Wirtschaft anzukurbeln, Sicherheit und Stabilität zu bringen, den Extremismus und die Taliban zu besiegen. Doch einen Punkt führt auch die deutsche Bundesregierung immer wieder gerne als Erfolg an: die Tatsache, dass nach den düsteren Jahren des Taliban-Regimes Millionen afghanischer Kinder in die Schule gehen können - auch Mädchen wie Sitara.

Viele afghanische Lehrer sind selbst nicht lange zur Schule gegangen

Ist das Eigenlob, in diesem Bereich eine gute Grundlage für die Zukunft Afghanistans geschaffen zu haben, berechtigt? Ein Blick auf die Fakten: 8,6 Millionen Kinder gehen nach Angaben des afghanischen Bildungsministeriums in öffentliche Schulen, einige Hunderttausend weitere Mädchen und Jungen besuchen Religionsschulen oder andere Einrichtungen. Aber Mujib Mehrdad, Sprecher des Ministeriums in Kabul, verschweigt auch eine andere, vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) erhobene Zahl nicht: Etwa drei Millionen Kindern bleibt der Zugang zu Bildung verwehrt, "vor allem Mädchen".

Das hat zahlreiche Gründe: Um die Lücken an den Schulen zu füllen, müsste die afghanische Regierung deutlich mehr Lehrer beschäftigen als die aktuell 220 000 Pädagogen. Der Sprecher des Ministeriums nennt als Ziel, jährlich 5000 neue Lehrer einzustellen. Auch müsse die Qualität der Bildung gesteigert werden, räumt er ein. Mehr als sieben Prozent der afghanischen Lehrerinnen und Lehrer haben demnach selbst weniger als zwölf Jahre eine Schule besucht.

Sitara geht gerne in die Schule, sie liebt Literatur in ihrer Landessprache Dari und mag auch den Englischunterricht. Aber sie stört das Niveau, sie schwärmt von Europa, sie habe gehört, welche Möglichkeiten Schüler dort hätten, wie privilegiert sie seien. "Unser Gehirn ist auch nicht kleiner als das von anderen Menschen in der Welt, aber die Qualität unserer Bildung ist sehr niedrig", sagt sie.

Doch immerhin gibt es in weiten Teilen Afghanistans Schulen, auch wenn ein Drittel der Kinder sie nach wie vor nicht besuchen kann. Zusätzlich zum Lehrermangel hat das mit der Armut im Land zu tun, erklärt Mehrdad. Viele Kinder müssten einen Teil des Familieneinkommens miterwirtschaften. Auch gebe es noch immer Familien, die aus "kulturellen Gründen" ihre Mädchen nicht zur Schule schicken.

Wird der Schulbesuch zur Verhandlungsmasse bei Friedensgesprächen?

Am schwersten wiegt aber die prekäre Sicherheitslage. Mehr als 700 Schulen im ganzen Land sind geschlossen, weil sie in Kampfgebieten liegen, berichtet Mehrdad. Sowohl Regierungstruppen als auch die Taliban benutzen die Bildungseinrichtungen als Lager für Munition, Waffen und Kämpfer. Das Bildungsministerium appelliert zwar immer wieder an das Verteidigungs- und Innenministerium, das Militär dürfe die Schulen nicht zweckentfremden, aber meist ohne Erfolg. Doch bei der Bildung kommt es auch zu lokalen Kooperationen zwischen den beiden Kriegsparteien. "Es gibt Gegenden in Afghanistan, die vollständig unter der Kontrolle der Taliban liegen, aber die Schulen dort sind dennoch geöffnet und werden von der Regierung weiterbetrieben", sagt Mehrdad.

Doch Mädchen wie Sitara treibt wie Millionen anderer Afghaninnen eine große Sorge um. Sie befürchten, die kleinen Errungenschaften der vergangenen Jahre könnten dahin sein, wenn die Islamisten im Rahmen von Gesprächen mit der Regierung mehr Macht eingeräumt bekommen. Während des Taliban-Regimes in der Zeit von 1996 bis 2001 war es Mädchen verboten, zur Schule zu gehen, Frauen durften sich öffentlich nicht allein auf der Straße blicken lassen. Viele Afghaninnen befürchten jetzt, dass ein schmutziges Tauschgeschäft eingefädelt wird: Die Regierung schließt Frieden mit den Islamisten und schränkt im Gegenzug die Rechte der weiblichen Bevölkerung ein. Gerät der Schulbesuch damit zu einer Art Verhandlungsmasse bei Friedensgesprächen?

Sogar der Taliban-Sprecher singt ein Loblied auf die Bildung

Ein Anruf bei Taliban-Sprecher Qari Mohammad Jusuf Ahmadi. Was er sagt, klingt zunächst einmal harmlos: "Bildung kann viele der Probleme lösen, die in unserer Gesellschaft existieren." Schulunterricht, auch für Mädchen, sei wichtig - basierend auf den "Lehren des Islam". Er verwahrt sich gegen die von internationalen Organisationen und der afghanischen Regierung verbreitete Darstellung, die Taliban seien für die Zerstörung zahlreicher Mädchenschulen verantwortlich. "Eine friedliche und angenehme Atmosphäre sollte für Mädchen geschaffen werden, damit sie Bildung erlangen können, damit sie in Sicherheit und entspannt zur Schule gehen können", meint der Taliban-Sprecher.

Man könnte all diese Aussagen leicht als Propaganda abtun, aber ein Teil davon ist auch aus Sicht unabhängiger Beobachter korrekt. Analysten in Kabul betonen: Einige Taliban-Kämpfer haben sich gewandelt. Sie wollen keinesfalls zu dem Steinzeit-Islam zurückkehren, den sie in den 1990er-Jahren vertreten haben. Sie möchten auch nicht wieder als Paria der Weltgemeinschaft gelten, sondern haben ein Interesse daran, dass westliches Hilfsgeld weiterhin nach Afghanistan fließt - auch für Schulen. Aber eine Beteiligung der Taliban an der Macht würde sich für Schülerinnen wie Sitara negativ auswirken, daran besteht kein Zweifel. Sie sagt: "Der Krieg geht weiter, ich sehe keine gute Zukunft, weder für mein Land noch für mich."

"In der elften Klasse ist mein Unterricht oft ausgefallen wegen der Schießereien"

Ihr Alltag ist von einer ständigen Bedrohung überschattet, von dem Gefühl, dass jederzeit eine Bombe explodieren könnte. Doch zumindest beherrschen die Taliban Kabul nicht, sie konzentrieren sich in der Hauptstadt auf spektakuläre Anschläge. Für Abdullah ist die Situation anders. Der 18-Jährige aus Char Darah hat gerade nach zwölf Jahren seinen Schulabschluss gemacht und möchte nun eine Ausbildung beginnen. Sein Heimatdistrikt liegt in der Provinz Kundus, im ehemaligen deutschen Einsatzgebiet. Hier hat die Bundeswehr schwere Verluste erlitten, hier hat der deutsche Oberst Georg Klein 2009 den verheerenden Luftangriff angeordnet, bei dem unschuldige Zivilisten starben. Kundus, das ist aus deutscher Perspektive der Inbegriff für den Krieg in Afghanistan.

Perspektivlos

Afghanistan hat eine sehr junge Bevölkerung. 32 Millionen Menschen lebten nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IMF) 2015 in dem Land, das Durchschnittsalter betrug 17,5 Jahre. Schon seit Jahren liegt der Bevölkerungsanteil der 0 bis 14-Jährigen am Hindukusch um die 45 Prozent, im Vergleich dazu macht diese Altersgruppe in Deutschland etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Eine so junge Bevölkerung braucht dringend Perspektiven, vor allem Jobs und Sicherheit. Doch der Arbeitsmarkt ist schwach. Und auch 15 Jahre nach dem Einmarsch des Westens in Afghanistan ist kein Ende des Krieges in Sicht, so wollen weiterhin Hunderttausende Afghanen aus ihrer Heimat fliehen. Tobias Matern

Wie wenig Sicherheit die Bundeswehr nach ihrem Abzug 2013 hinterlassen hat, zeigen Abdullahs Erzählungen. Der junge Mann heißt anders, aber zu seinem Schutz steht sein richtiger Name nicht in der Zeitung. Er hat sich bereit erklärt, in einem Telefonat offen über seine Situation und über die Taliban zu sprechen. "Seit drei Jahren ist die Gegend, in der ich lebe, unter deren Kontrolle", sagt er. Trotzdem sei die Schule weiter von der Regierung betrieben worden - unter Duldung der Taliban.

Wie eigentlich jeder afghanische Schüler unterstreicht Abdullah den Wert von Bildung, begeistert berichtet er von den Möglichkeiten, die er durch den Schulbesuch erhalte. Dabei lag sein Klassenzimmer mitten im Kriegsgebiet. "Jederzeit konnten Kämpfe ausbrechen. In der 11. Klasse ist mein Unterricht oft ausgefallen wegen der Schießereien." Als er in die 12. Klasse ging, sei es besser geworden, weil die Regierungstruppen den Taliban das Gebiet kampflos überlassen hätten. Für die Schüler bestand so zumindest keine Gefahr mehr, ins Kreuzfeuer zu geraten.

Keine Mädchen auf der Abschlussfeier

Abdullah erzählt aber, die Taliban achteten sehr genau darauf, was in der Schule passiert: Sie bestrafen Schüler, die den Unterricht schwänzen, oder rügen die notorisch unterbezahlten Lehrer, die nicht zur Arbeit kommen. Das Einstiegsgehalt für einen afghanischen Lehrer liegt bei 5800 Afghani im Monat, das sind umgerechnet etwa 75 Euro. Die Islamisten veranstalteten sogar eine Abschlussfeier für die Abiturienten. Daran nahmen jedoch keine Schülerinnen teil, denn "die Taliban lassen Mädchen nur zur Schule gehen, bis sie zwölf Jahre alt sind", sagt Abdullah.

Seine Erlebnisse stehen in deutlichem Widerspruch zu den Ausführungen des Taliban-Sprechers. Abdullah hat unter schwierigsten Bedingungen seinen Abschluss gemacht, nun ist er für seine Ausbildung in die Provinzhauptstadt Kundus gezogen - selbst hier ist die Lage so gefährlich, dass er nach 20 Uhr das Haus nicht mehr verlassen kann. Trotzdem sagt er: "Vor mir liegt eine gute Zukunft, nach der Ausbildung will ich noch Betriebswirtschaft studieren." Bildung, das biete ihm die Gelegenheit, "den richtigen Weg im Leben" einzuschlagen.

Sitara wollte sich bis in die Nationalmannschaft boxen

Das sieht Sitara auch so, obwohl sie die Widerstände erlebt, Tag für Tag, weil sie ein Mädchen ist. Sie würde in der Schule gerne mehr Sport machen, aber das ist für Schülerinnen fast gar nicht vorgesehen. Sie würde gerne eine Haarspange tragen, aber der Kleiderkodex sei so streng, dass selbst so etwas verboten ist. Also hat Sitara privat Sport gemacht, geboxt, sie wollte sich bis in die Nationalmannschaft kämpfen. Das musste sie aufgeben, ihre Familie hat es untersagt. "Manchmal fühle ich mich ohnmächtig, weil wir doch etwas erreichen wollen, aber die sozialen und familiären Widerstände verhindern, dass wir uns vorwärts bewegen können", sagt sie.

Afghanistan, 15 Jahre nach dem Sturz der Taliban: Sitara besucht eine Schule, doch eine Perspektive erkennt sie in der männerdominierten Gesellschaft für sich trotzdem noch nicht. Nach wie vor gibt es in ihrer Heimat unüberwindbare Hürden für Frauen. Präsident Ashraf Ghani hat vergangenes Jahr erstmals eine Juristin für eine Richterinnenstelle am Obersten Gericht vorgeschlagen. An ihrer fachlichen Qualifikation bestand kein Zweifel. Doch eine Mehrheit im Parlament bekam die Frau nicht. Das konservative Establishment in Kabul wusste das zu verhindern.

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