Schule:Wer braucht schon Noten?

Zeugnisse

In Bayern gibt es am Freitag Halbjahreszeugnisse.

(Foto: dpa)
  • An den bayerischen Schulen gibt es am Freitag Zwischenzeugnisse.
  • Für Schüler der Klassen eins bis drei wurden vor einigen Jahren Lernentwicklungsgespräche eingeführt, die zum Halbjahr Notenzeugnisse oder Wortgutachten ersetzen können.
  • Lehrkräfte, Eltern und Kinder finden diese Variante der Leistungsbeurteilung gut.

Von Matthias Kohlmaier

Zwei Euro für jede Eins, einen Euro für die Zweien und, wenn die Großeltern großzügig waren, 50 Cent für jede Drei - das waren einst die gängigen Tarife, auf die sich Grundschüler am Zeugnistag berufen konnten. Dazu freilich noch pro Note 1 eine Kugel Eis umsonst in der Eisdiele.

Wenn Bayerns Grundschüler von der ersten bis zur dritten Klasse - wegen des Übertritts an die weiterführende Schule bekommen die Viertklässler bereits im Januar einen Zwischenbericht - an diesem Freitag ihre Halbjahreszeugnisse bekommen, dann wird die Abrechnung mit Oma und Opa etwas komplizierter als mit dem Modell von früher. Lernentwicklungsgespräche haben seit dem Schuljahr 2014/15 die Notenzeugnisse zum Halbjahr sukzessive ersetzt. Sie sollen objektiver sein als Zahlen von eins bis sechs und persönlicher als kommentarlos ausgehändigte Wortgutachten.

Dafür füllen Kinder und Lehrkräfte unabhänig voneinander einen Fragebogen aus. Die Schüler bewerten mit den Farben rot, gelb und grün Kategorien wie "Ich grüße und bin freundlich", "Ich arbeite mit meinem Partner gut zusammen", aber auch Fachspezifisches wie "Ich schreibe die Zahlen bis 100 richtig". Zusätzlich formulieren die Schüler ein Ziel, das sie erreichen möchten, etwa mehr Ordentlichkeit bei den Hefteinträgen.

Im Lernentwicklungsgespräch tauschen sich dann Lehrer mit Schülern darüber aus, was schon gut klappt und was noch verbessert werden kann. Die Eltern sollen zwar dabei sein, sich aber - wie auch beim Ausfüllen des Fragebogens - möglichst zurücknehmen. "Diese Zeit gehört den Kindern", sagt Nicole Sölch, die an einer Grundschule im Münchner Umland unterrichtet.

Was erst einmal nach einer Menge Aufwand für alle Beteiligten klingt, ist der Lehrerin zufolge dennoch eine tolle Entwicklung: "Pädagogisch finde ich diese Variante viel sinnvoller, weil ich als Lehrerin die Möglichkeit habe, dem Kind direkt Feedback zu geben und auch welches von ihm zu bekommen." Um den berufstätigen Eltern die Teilnahme zu ermöglichen, bietet Sölch sogar am Abend und samstags Gesprächstermine an.

Für die Kinder scheint der Dialog, ganz ähnlich einer Zielvereinbarung, wie sie Arbeitnehmer regelmäßig mit dem Chef festlegen, gut zu funktionieren. "Die Schüler fühlen sich durch diese Gespräche ernst genommen und profitieren davon definitiv mehr, als sie das von einem einfachen Zeugnis könnten", sagt Sölch. Kein Wunder: Im Notenzeugnis muss die Leistung in Mathe in einer einzigen Zahl zusammengefasst werden; im Formular für das Lernentwicklungsgespräch wird das Mathekönnen in verschiedensten Kategorien mit rot, gelb und grün bewertet.

Marie bekommt bessere Noten als Chantal

Zensuren gibt es in Bayern erstmals am Ende der zweiten Klasse. Ähnliche Projekte laufen in vielen Bundesländern, zumindest zu Beginn der Schulkarriere wird fast überall auf Noten verzichtet. Gerade erst hat Brandenburg entschieden, Erst- und Zweitklässler verpflichtend nicht mehr zu benoten.

Dass die Zensuren von eins bis sechs Vergleichbarkeit oft vorgaukeln und nicht gewährleisten, ist in der Forschung längst bekannt. Studien zeigen, dass die Note von der Laune des Lehrers beim Beurteilen der Klassenarbeit, der Sympathie gegenüber dem Schüler und vielen anderen Kriterien abhängen kann. Selbst der Vorname des Kindes kann eine Rolle spielen: Eine Untersuchung der Uni Oldenburg zeigte, dass Lehrkräfte zum Beispiel Mädchen mit dem Namen Marie positiver wahrnahmen als Klassenkameradinnen namens Chantal.

Warum also nicht einfach auf Noten verzichten, wenn persönliche Gespräche mit Zielvereinbarung offenbar sinnvoller sind? Erstens, weil das deutsche Schulsystem gegliedert ist und Kinder früher oder später in Schularten sortieren will. Gegen diese Segregation gibt es viele Argumente - solange sich das System aber nicht grundlegend verändert, werden Noten dafür notwendig sein. Und zweitens, weil sich die meisten Eltern und Kinder langfristig Zensuren wünschen.

"Die Zweitklässler sind ganz scharf auf Noten und fragen schon früh im Schuljahr, welcher Note diese oder jene Leistung entsprechen würde", sagt Grundschullehrerin Nicole Sölch. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im vergangenen Jahr erklärten etwa drei Viertel der Teilnehmer, dass sie Schulnoten sinnvoll finden. Auch Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Philologenverbands, ist strikt gegen die Abschaffung von Noten. Das suggeriere den Betroffenen, auch ohne vergleichende Leistungsbewertung und ohne das Erreichen von Standards könne man in der Schule und damit letztlich später auch im Leben erfolgreich sein. Subtext: Alles andere ist Kuschelpädagogik.

Warum sich Leistung in den höheren Klassen nur anhand einer Zahl und nicht auch im Zwiegespräch zwischen Lehrer und Schüler plus individuellem Gutachten bestimmen lässt, sagt Meidinger nicht. Die Option Lernentwicklungsgespräch wird also für den Moment auf die Grundschulen beschränkt bleiben. Das bayerische Kultusministerium hält Lernentwicklungsgespräche an Gymnasien oder Realschulen sowieso für "kaum realisierbar". Die Klassen würden einfach von zu vielen verschiedenen Lehrern unterrichtet.

Liebenden Großeltern wird das vermutlich ohnehin egal sein.

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