Schule:"Solange mein Team hinter mir steht, halte ich das aus"

Die Simpsons - Hölle, Tod und Geister

Ziemlich stressiger Beruf: In der US-Zeichentrickserie "Die Simpsons" hat Rektor Skinner seine liebe Mühe mit dem frechen Bart Simpson.

Wie sich das Berufsbild des Schulleiters verändert hat, zeigt sich bei ihrer jährlichen Konferenz: Dort geht es zu wie bei einem Manager-Workshop.

Von Susanne Klein, Düsseldorf

Es war eine riskante Entscheidung: Der Junge, der im letzten Spätsommer an der Gemeinschaftsgrundschule Innenstadt in Wesel eingeschult werden sollte, war emotional extrem vernachlässigt und litt nach dem Umzug von der drogensüchtigen Mutter zum Vater unter Verlustängsten. Im Kindergarten klammerte er sich wie ein Äffchen an seinen Erzieher, ohne Körperkontakt hätte er den Tag nicht durchgestanden. "Nicht beschulbar", urteilte die vom Jugendamt bestellte Familienhelferin. Der Junge sollte im Kindergarten bleiben, obwohl er bereits ein Jahr älter als die meisten Erstklässler war. Aber die Schulleiterin dachte weiter: "Dann stehen wir nächstes Jahr vor genau demselben Problem." Sie nahm den Jungen auf.

Astrid Wahl-Weber erzählt diese Geschichte am Rande des jährlichen Schulleiterkongresses in Düsseldorf. Sie ist aus dem 60 Kilometer entfernten Wesel gekommen, um sich Anregungen zu holen. Zum Beispiel, wie man mehr Wertschätzung ausdrückt. Seit Kurzem weiß sie aus einer Befragung, dass ihr Kollegium das an ihr vermisst. Das will sie ändern, denn ihre Schule mutet den Lehrern viel zu. Besonders im ersten Schuljahr, wenn Kinder wie dieser Junge in der Klasse sitzen. "Spätestens Weihnachten gehen die Lehrer auf dem Zahnfleisch", sagt die Schulleiterin. Da ist Wertschätzung umso mehr gefragt.

Etwa 2000 Schulleiter sind in Düsseldorf versammelt, in zwölf Sälen laufen Vorträge. Es sprechen Dutzende Bildungs-Experten, aber auch der Politiker Cem Özdemir, Bergsteiger Reinhold Messner und der Zirkusdirektor André Sarrasani. Es geht um Flüchtlingskinder und Inklusion, um neue Unterrichtskonzepte, Digitalisierung, Networking. Der Typus des Schulleiters hat sich gewandelt. Weg vom Direktor, der gravitätisch die Flure abschreitet oder der Direktorin, die mütterlich die Kleinen um sich schart. Hin zum Manager einer Institution, dem es zwar oft an Mitteln, nie aber an Aufgaben mangelt.

Astrid Wahl-Weber ist an ihrer Gemeinschaftsgrundschule für 406 Kinder verantwortlich, sie lenkt ein Team aus 30 Lehrern, 30 Erziehern und vier Sonderpädagogen. Die Strukturen seien so komplex wie in einem mittelständischen Unternehmen, sagt sie. Wenn sie und ihr Mann, ein Unternehmensberater, über ihre Berufe sprechen, "tun wir das auf Augenhöhe".

Einen Stellvertreter findet die Schulleiterin nicht

Wahl-Weber, 48, leitet bereits ihre vierte Schule. Eine große Frau mit ruhiger Stimme, die wirkt, als habe sie gern den Überblick. Eine Autorität? Sie lacht. "Wenn Kollegen androhen, dass die Kinder zu mir müssen, dann wirkt das schon." Ihr Arbeitsort liegt im sozialen Brennpunkt der Weseler Innenstadt. "Standorttyp der Stufe 5" diagnostiziert Nordrhein-Westfalens Schulministerium - mehr Brennpunkt geht nicht. "Im Stadtzentrum steht viel sozialer Wohnungsbau, das zieht Familien mit geringem Einkommen oder Hartz IV an", erklärt die Schulleiterin.

Für eine Stadt mit 60 000 Einwohnern ist ihre Grundschule groß. Eine Stellvertreterin hat sie trotzdem nicht. Die Stelle ist seit dem Sommer verwaist, die einzige Bewerberin auf vier Ausschreibungen scheiterte an der Schulbehörde. Ein Vollzeitsekretär unterstützt die Leiterin, immerhin. Und sie ist voll vom Unterricht befreit, lehrt zurzeit keines ihrer Fächer, Deutsch, Mathe, Sport. Anders würde es auch nicht gehen, sie hat so schon eine 50-Stunden-Woche. 67 Prozent ihrer Schüler kommen aus Migrantenfamilien, 36 Nationalitäten sind vertreten, 95 Flüchtlingskinder lernen an der Schule, etwa 70 Jungen und Mädchen haben Entwicklungsdefizite. Natürlich gibt es Spannungen, Streit, manchmal fliegen Fäuste oder sogar Stühle. "Wenn Kinder arabischer Herkunft mit 'ich fick deine Mutter' provoziert werden, flippen die total aus. Dann kann es sein, dass sie sich auf die Nase hauen." In solchen Fällen wird Wahl-Weber gerufen. Manchmal müssen aber auch die Eltern kommen.

93 Prozent der Rektoren gehen gerne oder überaus gerne zur Arbeit

Trotz der Schwierigkeiten sind die Anmeldezahlen der Schule gut. Die Weseler wissen, wie engagiert sich die Pädagogen hier um ihre Kinder kümmern. 2015 gab es dafür den Integrationspreis der Stadt. Modern ist die Schule auch. Als Bildungsministerin Johanna Wanka fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung von Schulen versprach, hatte Wahl-Weber die Whiteboards für vier im Bau befindliche Klassenzimmer längst bestellt. Inzwischen ist der Neubau fertig, die elektronischen Tafeln funktionierten super, sagt sie.

Aus dem Kongress-Programm hat sich Wahl-Weber vier Vorträge herausgesucht. Darunter den eines Frachtschiffkapitäns. Er berichtet, wie man auf monatelanger Fahrt eine Crew im Griff behält: mit klaren Ansagen, Vertrauen, Respekt. Der Beamer projiziert Sätze wie "Man muss den Menschen Zeit geben" an die Wand, Wahl-Weber schreibt mit. Am besten gefällt ihr der Vortrag eines Arztes. Er spricht über Schlafstörungen, Burn-out und Leidbilder statt Leitbilder, fragt ins Publikum: "Wie schätzen Sie auf einer Skala von eins bis zehn Ihre Fähigkeit ein, Ihre persönlichen Bedürfnisse zu unterdrücken?" Wahl-Weber lacht. "Mittags mache ich keine Pause, weil da die Lehrer aus dem Unterricht kommen. Ich halte mich für stressresistent, aber ich sollte mehr auf mich achten." Während der Vorträge schaut sie öfter auf ihre Smartwatch, per Smartphone tauscht sie sich mit ihrem Sekretär aus.

Am Vormittag wird eine Umfrage unter 1000 Schulleitern vorgestellt. Das Ergebnis ist ein bisschen paradox. Obwohl die meisten über stetig neue Aufgaben, zu viel Verwaltung, zu wenig Zeit und Personal und knappe Finanzen klagen, gehen 93 Prozent der Rektoren gerne oder überaus gerne zur Arbeit. Nur sieben Prozent kämpfen mit Motivationsproblemen. Für die anderen machen die Unterstützung aus dem Kollegium und die Anerkennung von Schülern und Eltern offenbar viele Nachteile wett.

Schulleiter schätzten das hohe Maß an Eigenverantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten, erklärt Udo Beckmann, Chef des Verbandes Bildung und Erziehung. Dann beziffert er den Personalmangel. 20 Prozent der etwa 2900 Grundschulen in Nordrhein-Westfalen haben keinen Konrektor, zwölf Prozent keinen Rektor. Bundesweite Zahlen fehlten, die Kultusministerkonferenz führe diese Daten nicht, kritisiert Beckmann, das liefe nach dem Motto "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Er selbst schätzt die Lage in anderen Bundesländern ähnlich ein, nur Bayern habe früh genug gegengesteuert. Eine wirksame Maßnahme setze beim Gehalt der Grund- und Hauptschulleiter an. Die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Sylvia Löhrmann hat es gerade erhöht, Leiter bekommen jetzt etwa 800 Euro brutto mehr als Lehrer. Konrektoren sind bei der Erhöhung leer ausgegangen. "Ein Fehler", sagt Beckmann, "sie bilden den Pool, aus dem sich Rektoren rekrutieren."

Gut möglich, dass Wahl-Weber noch eine ganze Weile allein weitermachen muss. "Solange mein Team hinter mir steht, halte ich das aus", sagt sie. Das war schon einmal anders. Vor einigen Jahren musste sie aus drei kleinen Grundschulen eine große machen - jene, die sie jetzt führt. Die bildungsorientierten Eltern einer betroffenen Schule protestierten, Wahl-Weber wurde angefeindet, die Presse berichtete. Da kam sie an ihre Grenze, litt unter Schlafstörungen. Wenn sie etwas sehr beschäftigt, schläft sie auch heute schlecht. Ihren Job liebt sie dennoch.

Sie führt Personal- und Schülerstatistiken für die Kommune und Bezirksregierung, findet Geldgeber für Projekte, besänftigt Eltern, schreibt Konzepte, bereitet Lehrerkonferenzen vor, spricht mit dem Schulamt über Stellenbesetzungen und ist in die Sozialarbeit rund um die Schule involviert. Am meisten fordert sie die Aufgabe, den offenen Ganztag sinnvoll zu gestalten. 80 Prozent ihrer Schüler bleiben bis halb fünf. Eigentlich schreit das nach einem Ganztagsbetrieb, in dem auch nachmittags verbindlich unterrichtet wird. Doch den gibt es in nordrhein-westfälischen Grundschulen nicht, denn er ist teurer als der offene Ganztag. Also muss Wahl-Weber so klarkommen.

Der kleine Junge, den die Rektorin letzten August an ihre Schule holte, tat sich mit dem Ganztag schwer. Anfangs habe er es nur zwei Stunden im Unterricht ausgehalten, berichtet sie. Mehrere Monate lang beanspruchte er eine Sonderpädagogin komplett für sich allein. Dann fand er langsam zu sich. "Er hat begriffen, es gibt eine Struktur, ein System, und in diesen Grenzen kann ich mich bewegen", erklärt die Schulleiterin. Klar, manchmal würde er noch ausrasten, aber er sei jetzt ganztags dabei. "Das ist das, was einem dann Kraft gibt", sagt Astrid Wahl-Weber.

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