Schule:Schwer erziehbar

ADHS

Kinder mit gestörter Konzentration können die Reize aus der Umwelt nicht in die richtige Muskelspannung umsetzen. Die Westen sollen dabei helfen.

(Foto: dpa)
  • An 13 Hamburger Grund- und Stadtteilschulen kommen im Umgang mit ADHS-Kindern Sandwesten zum Einsatz.
  • Die Westen sollen die Kinder beruhigen und ihnen helfen, sich zu konzentrieren.
  • Manche Fachleute halten das allerdings für "ethisch nicht zu vertreten".

Von Thomas Hahn, Hamburg

Der Ergotherapeut Thorsten Albrecht erzählt von den Sandwesten, die er vor ungefähr 13 Jahren im Braunschweiger Verein Köki zur Förderung körperbehinderter Kinder entwickelt hat. Er erzählt davon, wie die Westen durch ihr Gewicht hyperaktive und unkonzentrierte Kinder beruhigen können. Und irgendwann redet er sich in Rage, als er erklärt, warum es diese Westen überhaupt gibt. Diese zwanghafte Unruhe, die manche Kinder umtreibt, hat aus seiner Sicht damit zu tun, dass sie in der Konsumgesellschaft nicht mehr genügend Bewegung bekommen.

Früher, als es noch normal war, an der frischen Luft zu spielen statt daheim am Computer, hätte es die Westen gar nicht gebraucht, glaubt er. Und heute stellt Albrecht fest, dass Kinder vom Lande die Therapie kaum brauchen, weil die noch ein Gespür dafür entwickeln, wie toll es ist, über eine Wiese zu rennen. "Das sind alles Stadtkinder oder Neubauwohnungskinder, die in der Therapie sind, weil sie zu wenig aktiv sind", sagt Albrecht. Er wüsste ein besseres Mittel als Sandwesten: "Die müssten eigentlich mehr Sport betreiben."

Die Sandwesten haben zuletzt Schlagzeilen gemacht, vor allem in Hamburg, wo verschiedene Medien darüber berichteten, dass einzelne Schulen sie zum Einsatz bringen. 13 von 56 Hamburger Grund- und Stadtteilschulen mit Schwerpunkt Inklusion setzen nach Auskunft der Schulbehörde diese Westen regelmäßig im Unterricht ein, um Kinder "mit Konzentrationsdefiziten und motorischer Unruhe" zu befrieden. Das fanden viele Beobachter spontan seltsam: Für manche klangen die Berichte so, als würde der Nachwuchs in Zwangsjacken gepackt oder zumindest mit Gewichten auf die Stühle gedrückt. Und Michael Schulte-Markwort, Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf, sagt: "Ich erkenne keine vernünftige Diagnostik und Behandlungsempfehlung." Es fehlten wissenschaftliche Erkenntnisse zu den Effekten, außerdem nennt er die Westen "ethisch nicht zu vertreten".

Der Umgang mit Kindern, die etwa eine grundlegende Störung ihrer Konzentration haben, ist ein weites Feld. Die Sandweste ist dabei eines von verschiedenen Instrumenten, das man - wie bei jeder anderen Therapie auch - klug dosieren muss. Und das auch nicht bei jedem Patienten gleich wirksam ist. Anders sehen das auch die leidenschaftlichsten Verfechter der Westen nicht. "Sie sind kein Allheilmittel", sagt Albrecht. Dass man mit den Sandwesten gegen die Moral der Kindererziehung verstoße, bestreiten die Befürworter allerdings. Sie finden die Therapie damit sogar ziemlich naturnah und auf jeden Fall verträglicher als manch andere Idee für Kinder mit der Aufmerksamkeits-Störung ADHS. "Die Sandwesten sind ein Teil in der sehr komplexen Wahrnehmungsbehandlung alternativ zur Pharmaindustrie, damit sich die Kinder besser fühlen", sagt die Bewegungstherapeutin und Buchautorin Ulla Kiesling.

Albrecht sagt: "Ich setze die Sandwesten lieber ein als Ritalin." Das Prinzip der Sandwestentherapie ist nicht neu. "Schon in den Fünfzigerjahren haben Therapeuten irgendwas zusammengenäht, weil sie merkten, dass es für bestimmte Kinder sinnvoll ist, wenn sie sich spüren", sagt die Köki-Geschäftsführerin Heidi Bitterberg. Sensorische Integration ist das Stichwort. Kinder mit gestörter Konzentration oder motorischer Unruhe können die Reize aus der Umwelt nicht in die richtige Muskelspannung umsetzen, deswegen kommen sie nicht zur Ruhe. Das Gewicht einer Sandweste wirkt wie ein Verstärker für die Sinneswahrnehmung. Das Nervensystem kann die Reize besser verarbeiten und das Gehirn aus diesen Reizen die richtige Muskelspannung ableiten.

"Das ist keine Zwangsjacke"

Das bedeutet: Die Kinder sitzen nicht still, weil die Weste sie auf den Stuhl drückt, sondern weil sie ihnen ein Gefühl von sich selbst gibt, das ihnen ohne Weste fehlen würde. "Das ist keine Zwangsjacke", sagt Thorsten Albrecht. Das Kind muss sie ohnehin freiwillig tragen, die Eltern müssen einwilligen. Und das Gewicht der Westen ist unterschiedlich. "Ein Kind, das einen schwachen Muskeltonus hat, bekommt eine leichte Weste an, eines mit starkem Muskeltonus bekommt eine etwas schwerere Weste", sagt Silke Turley, Geschäftsführerin des Sandwestenherstellers Beluga, "wobei diese Westen für Kinder im Grundschulalter nie schwerer sind als dreieinhalb Kilo."

Thorsten Albrecht hat seine Sandwesten früher selbst gebastelt. Er steckte Sandsäckchen in die Taschen von Überziehern und experimentierte. Der frühere Beluga-Geschäftsführer Jürgen Pastorino zeigte Albrecht eines Tages eine neue Errungenschaft zum therapeutischen Beschweren von Körpern: eine Sanddecke. Albrecht war angetan, sagte aber: "Ich hätte das gerne als Weste." Wenig später hatte er sie. Heute ist sie in Ergotherapie-Kreisen etabliert - und trotzdem noch für eine Debatte gut über die Frage, ob man Kinder zusätzlichen Gewichten aussetzen darf.

"Ich kann das verstehen", sagt Silke Turley, "die ganze Werbung läuft doch darauf hinaus, Kindern das Leben so leicht wie möglich zu machen." Komfort ist wichtig in der Wohlstandsgesellschaft. Dabei kann man durchaus übersehen, dass es auch mal von Nutzen sein kann, wenn das Leben ein bisschen schwerer ist.

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