Schule:Noten sind in der Grundschule überflüssig

Zeugnisse

"Ziffernnoten sind wenig aussagekräftig", findet der Bayerische Elternverband.

(Foto: dpa)

Zensuren sind oft ungerecht und ungenau. Gerade bei jungen Schülern gibt es gute Alternativen.

Kommentar von Susanne Klein

In dem Dokumentarfilm "Ich. Du. Inklusion" sitzen Drittklässler mit ihrer Lehrerin im Kreis. Ein Junge erzählt, dass seine Mutter ihn für Fünfen mit Verboten bestraft, ein anderer sagt: "Meine Mama weiß, dass ich immer gut übe, deswegen wird sie nicht so sauer. Bei Papa ist das anders. Papa findet nicht gut, dass ich in Deutsch fast nur Vieren habe, und dann streiten sich Mama und Papa, und davor, wenn ich nach Hause geh, weine ich fast die ganze Zeit." Ein Mädchen berichtet: "Also wenn ich eine schlechte Note geschrieben hab, dann will ich immer ganz früh ins Bett und weine noch ganz lange." "Ich auch", flüstert ein Mitschüler.

Man schluckt und möchte denken: Einzelfälle. Doch wenn es um gute Schulnoten geht, legen viele Eltern einen erstaunlichen Ehrgeiz an den Tag. Ständige Leistungserwartung könne dazu führen, dass Kinder sich als ewige Versager fühlen, die Schule schwänzen oder sogar Lernbehinderungen entwickeln, warnen Psychologen. Zwar sind nur etwa 20 Prozent der Zensuren an deutschen Schulen Vieren, Fünfen oder Sechsen. Aber Schulkinder in Deutschland, die das System der Sortierung durch Noten früh verinner­lichen, wissen ganz genau: Wer eine Vier, Fünf oder Sechs hat, gehört eindeutig zu den Verlierern. Vor jeder Zeugnisver­gabe appellieren Lehrerverbände an die Eltern, auf schwache Noten besonnen zu reagieren. Kinder bräuchten in solchen Momenten Verständnis und Zuwendung, nicht Enttäuschung und Druck.

Aber braucht es denn - zumindest in der Grundschule - überhaupt Noten? Viele Lehrer, vor allem Grundschul­lehrer, wundern sich, warum sie Schüler begabungsgerecht und individuell unterrichten sollen, wenn deren Leistungen dann doch am Ende pauschal verglichen und in eine feste Rangfolge einsortiert werden. Dabei kann doch ein und dieselbe Zensur im Rechtschreibtest zweierlei bedeuten: "Das kannst du besser, Leo!" oder "Super, Paul, du hast dich sehr verbessert!". Wenn stattdessen alle nur auf die Noten starren, zersetzt das die Freude an der Schule, dämpft die natür­liche Wissbegier und schwächt den sozialen Zusammenhalt.

Gut beobachten kann man das in leistungsorientierten Bundesländern wie Bayern, wo die Zensuren von Viertklässlern für die schu­lische Zukunft ausschlaggebend sind. Kinder fangen an auszurechnen, welche Note sie in welchem Test schreiben müssen, um auf den erforderten Schnitt zu kommen. Es geht also weniger darum zu lernen, als darum, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gute Punktzahl zu erreichen. Die Gefahr der sozialen Ausgrenzung wird durch die Notengebung, das klare Sortieren in sechs Leistungsstufen, verstärkt und beschleunigt. Denn Kinder erfassen sehr schnell, wer gut ist und wer schlecht.

Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, spricht inzwischen sehr deutlich davon, dass eine "differenziertere und individuellere Leistungsbewertung" viel sinnvoller sei als eine Note: "Was bringt einem Kind eine Fünf im Zwischenzeugnis? Motivierend ist das nicht." Und auch der Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands Martin Löwe pflichtet ihr bei: "Wir können das nur befürworten. Ziffernnoten sind wenig aussagekräftig und bequem für Lehrer und Eltern."

Zensuren variieren je nach Bundesland

Es macht einen Unterschied, ob man unter einer Arbeit mit wenigen Zeilen sehr klar gesagt kriegt, wie diese Arbeit war. Oder ob wie ein Stempel eine Note auf dem Deckblatt steht. Und es macht einen Unterschied, ob in einem Zeugnis eine individuelle Bewertung steht oder eine Ziffer, die am Ende auch nicht unbedingt objektiv ist. Denn ein Aspekt wird von Notenbefürwortern gern beiseitegeschoben: Noten sind nicht gerecht. Zensuren variieren je nach Bundesland, Schule, Lehrer, Unterrichtsqualität, Niveau der Lerngruppe und Eigenschaften der Schüler. Warum also fällt es dann so schwer, sich von dieser scheinbaren Objekti­vität zu verabschieden?

Viele deutsche Grundschulen verzichten inzwischen in den ersten zwei Schuljahren auf Noten. Lehrer führen dort mit Schulanfängern Lernentwicklungsgespräche, in denen sich die Kinder auch selbst einschätzen und Ziele formulieren. Oder sie schreiben ausführliche Wortgutachten über die Entwicklung der Schüler, ihre Leistungsstände und ihre Stärken und Schwächen. Und dann gibt es noch das vorgedruckte Kompetenzzeugnis, auf dem der Lehrer Fach für Fach ankreuzt, wie sicher verschiedene Fähigkeiten, beispielsweise Lesen, Schreiben, Hörverstehen, beherrscht werden. Noten gibt es keine.

Bei Schulanfängern also ist der Bann gebrochen, sie sind vom "Ernst des Lebens" ausgenommen. Doch wann beginnt er dann, der Ernst? Nach Mehrheitsmeinung immer noch in der dritten Klasse. Sie ist das Bollwerk der deutschen Notenkultur, die das früh gegliederte Schulsystem bedient. In Schleswig-Holstein dürfen Grundschulen seit zwei Jahren auch in den höheren Jahrgängen auf Zensuren verzichten und stattdessen Kompetenzzeugnisse verteilen. Aber nur ein gutes Drittel macht in Klasse drei davon Gebrauch, in Klasse vier nur ein knappes Fünftel.

Die Entscheidung wird auf Schulkonferenzen gefällt, mit einfacher Mehrheit. Dort sitzen Vertreter von Lehrern und Eltern - in gleicher Zahl. Da viele Grundschullehrer inzwischen aufgeschlossen für Zeugnis­alternativen sind, wäre es ein Leichtes für Eltern, die Noten abzuwählen. Aber sie tun es nicht. Drei Viertel aller Eltern halten Zensuren für sinnvoll, ergab eine repräsentative Umfrage im vergangenen Jahr. Sie schätzen die simple, wenn auch trügerische Übersicht­lichkeit des Systems: sechs Ziffern, Kommastellen, Durchschnittswerte. In Berlin votierten vor wenigen Jahren 86 Prozent der Eltern für Noten in der dritten und vierten Klasse. Die Deutschen hängen an ihrer rund 200-jährigen Notentradition.

Längeres Lernen ohne Noten, Gymnasien, die erst in der siebten Klasse beginnen - solche Reformen gelten in Deutschland automatisch als leistungsfeindlich. Ein Vorurteil, wie ein Land beweist, das im Schulwesen offen­bar viel richtig macht: Finnland. Neun Jahre lang lernen Kinder dort in einer Einheitsschule. In den ersten vier Jahren gibt es verbale Beurteilungen, Noten sind erst ab Klasse sieben Pflicht, dazwischen besteht Wahlfreiheit. Sitzenbleiben ist nicht vorgesehen. Die Schüler lernen trotzdem was, das weiß alle Welt. Finnland belegt bei Pisa-Studien regelmäßig gute bis sehr gute Plätze. Es geht also nicht darum, Noten für immer und generell abzuschaffen - sondern darum, sie erst einzuführen, wenn Kinder die geistige und soziale Reife haben, damit umzugehen. Und die ist bei einem Drittklässler anders als bei einem 13-Jährigen.

Für manche mag der Schritt zu groß sein. Aber man könnte ja auch über­legen, dass es erst einmal in dritten und vierten Klassen beides gibt, ein wirklich ausführliches Berichts- und ein Ziffernzeugnis. Dann wüssten sowohl Mia als auch Mias Eltern, dass sie sicher das kleine Einmaleins beherrscht und ihre Leistungen in Mathe insgesamt befriedigend sind. Sie erführen aber auch: "Häufig nimmst du dir Auszeiten, in denen du träumst oder dich mit anderen Dingen beschäftigst. Dadurch schaffst du deine Aufgaben und Wochenpläne nicht immer in der vorgegebenen Zeit." Gut möglich, dass nach ein paar Jahren dann niemand mehr so recht weiß, was Noten in der Grundschule überhaupt sollen.

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Dieser Text stammt aus Süddeutsche Zeitung Familie. Das 2in1-Magazin für Eltern und Kinder - jetzt hier bestellen.

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