Schule:"Mal in den Zoo, das geht bei uns nicht"

Waldklasse

Ist das eine Schlange oder eine Schnecke? Vor allem Stadtkinder können bei einem Ausflug in den Wald viel lernen.

(Foto: Uwe Zucchi/picture alliance/DPA)

Schulausflüge bringen Kindern neue Erfahrungen. Aber nicht alle Eltern haben das Geld dafür.

Report von Anne-Ev Ustorf

"Guck mal, eine Schlange", schreit die Zweitklässlerin Yara. Ihre Freundin Mila springt sofort in die Böschung. "Das ist doch nur eine Nacktschnecke", ruft der siebenjährige Mohamed über ihre Schulter. Die Klasse 2c aus dem Hamburger Stadtteil Stellingen wandert durch den Wohldorfer Wald am nördlichen Stadtrand. Die Schüler staunen über Nacktschnecken, Spechte, Käfer und Ameisenhügel. Einige von ihnen waren noch nie im Wald, allein der schwere Duft des Waldbodens irritiert sie. "Gibt's hier Löwen?", fragt Jamal besorgt.

Die Schüler sind echte Stadtkinder, die meisten wohnen mit ihren Familien in der Lenz-Siedlung, einem Hochhauskomplex in Stellingen mit mehr als tausend Wohnungen und einer bunt gemischten Mieterschaft: sechzig Prozent haben einen Migrationshintergrund, ein Drittel bezieht Sozialleistungen. Durch den Wald geht's und dann auf den Hof von Milchbauer Jan, der einigen Kindern die erste echte Kuh ihres Lebens zeigt und anschließend ein paar Runden mit den kreischenden Zweitklässlern Trecker fährt. Zum Abschluss grillen alle Wurst und Stockbrot im großen Garten von Klassenlehrerin Anja Bahnsen, direkt nebenan. Sie hat das ganze Programm organisiert. "Wir müssen uns was einfallen lassen", sagt die 35-Jährige. "Weil ein großer Teil unserer Elternschaft kein Geld für Ausflüge hat. Mal in den Zoo, das geht bei uns nicht."

Klassenausflüge und Exkursionen sind ein unverzichtbarer Teil des Schulalltags, sie fördern die Gemeinschaft, schaffen neue Erfahrungen und vermitteln neues Wissen. Und doch sind sie für viele Lehrer schwer zu planen. Denn sie kosten Geld. Sechs Euro für einen Theaterbesuch, zwölf Euro für den Kletterpark, fünfzehn Euro für den Zoo plus Fahrtkosten, das können nicht alle Eltern bezahlen. Eigentlich sollte das nicht so sein, hatte die Regierung im März 2011 doch extra das Bildungs- und Teilhabepaket verabschiedet, um Kindern und Jugendlichen aus Familien mit geringen Einkommen finanzielle Unterstützung beispielsweise für Exkursionen zu gewähren. Berechtigt sind Kinder und Jugendliche, die bereits Sozialleistungen beziehen, für sie übernimmt das Amt unmittelbar die Kosten für Ausflüge.

Auch in die 2a von Anja Bahnsen gehen viele dieser Kinder. Und doch ist es für die Klassenlehrerin oft kaum möglich, auch nur drei bis vier Euro für Ausflüge ins Museum einzutreiben. Nicht die Familien, die Sozialleistungen beziehen, haben damit Schwierigkeiten, sondern vor allem Eltern, die von einem niedrigen Einkommen leben und aus eigener Tasche bezahlen müssen.

Ein Problem, das vielen Klassenlehrern bekannt sein dürfte. Siebzehn Prozent der Bevölkerung in den neuen Bundesländern und zwölf Prozent der Bevölkerung im früheren Bundesgebiet leben in "prekärem Wohlstand", so eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendinstituts: Sie können zwar gerade ohne Sozialhilfe leben, liegen in der wirtschaftlichen Situation aber weit unterhalb des gesellschaftlichen Durchschnitts. Vor allem im wohlhabenden Hamburg steigt die Armut ungebremst: 16,9 Prozent der Bevölkerung, darunter viele Kinder, sind massiv von Armut bedroht. Damit verzeichnet die Hansestadt den höchsten Armutszuwachs in ganz Deutschland.

Viele Lehrer bezuschussen Klassenkassen

Vor allem Arbeitsmigranten und vielköpfige Familien sind überdurchschnittlich häufig betroffen. Umso schwerer fällt es ihnen, schulische Extrakosten zu bezahlen: Bei mehreren Kindern kommen schnell monatliche Summen von zwanzig bis dreißig Euro zusammen. "Je älter die Kinder, desto höher die unkalkulierbaren Kosten", erklärte jüngst der Berliner Beirat für Familienfragen in einem Thesenpapier über Kinder -und Familienarmut. "Die Armutssensibilität muss sowohl in Grund- als auch in Oberschule dringend ausgebaut werden", heißt es darin.

Zwar springen normalerweise Schulverein und Klassenkasse ein, wenn Eltern nicht zahlen können. Doch auch diese müssen von den Eltern finanziert werden. "Wir haben weder einen Schulverein noch ausreichend Geld in der Klassenkasse", erklärt Bahnsen. "Es gibt keine Puffer." Die Lehrerin plädiert deshalb dafür, dass die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) in sozial schwachen Vierteln Klassenkassen und Schulvereine übernehmen solle.

Privatpersonen helfen aus

Was also tun? Viele Lehrer bezuschussen Klassenkassen inzwischen aus eigener Tasche. Oder organisieren Ausflüge, wie Anja Bahnsen, in einer Weise, dass für Eltern kaum Kosten entstehen. Auch private Patenschaften spielen eine immer größere Rolle. Die frisch pensionierte Grundschullehrerin Brigitte Harder aus Schwerin unterstützt eine Klasse ihrer ehemaligen Grundschule, indem sie den Kindern jährlich einen Schulausflug spendiert. "Ich kann es mir Gott sei Dank leisten, den Kindern eine Freude zu machen", sagt Harder. Vor Kurzem hat das Schauspielhaus Hamburg eine Patenschafts-Aktion für Schulklassen ins Leben gerufen: Menschen aus der Großelterngeneration laden quasi im Rahmen eines Generationenvertrags eine Klasse regelmäßig ins Theater ein. Trotz niedriger Eintrittspreise sind Theaterbesuche für viele Schulen nicht erschwinglich.

Die Versorgungslücke zwischen Bildungs- und Teilhabepaket und bescheidenem Wohlstand wird derzeit, wenn überhaupt, also von Privatpersonen geschlossen. "Ein Armutszeugnis für Deutschland", findet die pensionierte Lehrerin Brigitte Harder. Den Kindern freilich ist es egal, wer den Ausflug bezahlt. Hauptsache, er findet statt. Auf dem Rückweg vom Wohldorfer Wald nach Stellingen drückt Yara die Hand ihrer Klassenlehrerin und kuschelt sich in der U-Bahn müde an sie. "Frau Bahnsen, das war der schönste Tag meines Lebens."

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