Schule:Die Hauptschulen sind wieder gefragt

Hauptschule mit zahlreichen Flüchtlingskinder

An Hauptschulen ist man es gewohnt, mit Heterogenität umzugehen.

(Foto: dpa)

Das liegt an der Flüchtlingskrise. Mit dem Spott über die "Resterampe" des Bildungssystems muss Schluss sein.

Gastbeitrag von Heidemarie Brosche

Und, wie ist es so mit den Flüchtlingen? Das hört man derzeit ständig, und auf diese Frage kann ich nur antworten: Für uns nichts Neues. Seit Jahrzehnten haben es Lehrer mit einer Vielfalt an Kulturen, Ethnien und Religionen an unseren Schulen zu tun, gerade an Haupt- und Mittelschulen. Zu uns kommen Kinder aus anderen Ländern, verschüchterte und rebellische, anhängliche und abweisende. Solche, die sich leicht mit allem Neuen tun und solche, die der Wechsel aus dem Gleichgewicht bringt. Nein, es ist für meine Kollegen und mich nichts Neues, dass 90 Prozent der Schülerschaft Migrationshintergrund haben. Es ist auch völlig normal, dass am Ethikunterricht eine Mischung aus Atheisten, Muslimen, Hindus und Buddhisten teilnehmen. Und dennoch jetzt ein Aufschrei in der Gesellschaft: Hilfe, die Flüchtlingskinder kommen!

Heidemarie Brosche ist Mittelschullehrerin in der Nähe von Augsburg und Autorin von Kinder- und Sachbüchern. Lesenswert: "Manchmal schauen sie so aggro" unter ihrem Pseudonym Hildegard Mohnheim, erschienen bei Beltz.

Ist es denkbar, dass ausgerechnet sie einer Schulart wieder positive Aufmerksamkeit bescheren, die in den letzten Jahren ganz schön in die Schmuddelecke geschoben wurde? Oft ist die Hauptschule sogar als "Resterampe des deutschen Schulsystems" bezeichnet worden. Ihre Lehrkräfte wurden an die eigenen Grenzen und um die verdiente Wertschätzung gebracht. Damit könnte angesichts der aktuellen Aufgaben bald Schluss sein. Damit muss endlich Schluss sein!

An dieser Schulart ist man es gewohnt, mit Heterogenität umzugehen - übrigens auch mit Flüchtlingen. Übergangs- oder Vorbereitungsklassen gibt es seit Jahrzehnten, schon für Gastarbeiterkinder, Asylbewerber, Aussiedler. So lange schon haben wir Schüler, die erzählen, wie Familienangehörige und sie selbst geflüchtet sind, und warum: Der Papa hat nicht mehr arbeiten dürfen, der Onkel wurde verfolgt, der Opa ist totgeschossen worden.

Wir haben die jungen Flüchtlinge mal in unserer Schülerzeitung vorgestellt und einen kleinen Film gedreht. Das Schlimmste für ihn sei gewesen, so berichtete einer, einem anderen Flüchtling beim Ertrinken zusehen zu müssen, ohne ihm helfen zu können. Der Schüler hat mit großer Energie die deutsche Sprache gelernt, er hat den qualifizierenden Hauptschulabschluss geschafft. Er ist bei uns als bekennender Muslim nicht in Erscheinung getreten, wenn man von dem Referat absieht, das er im Ethikunterricht über seinen Glauben hielt. Es gab wohlgemerkt auch nie einen Grund, weibliche Mitschülerinnen vor ihm zu warnen.

Schon das Grundprinzip für alle Schüler unterstützt "bunte Vielfalt", weit über Wissensvermittlung hinaus. Wir wissen, dass man keine Brüche kürzen kann, wenn die Seele in Aufruhr ist. Wir fühlen uns oft mehr als Tröster, Dompteure, Therapeuten, Animateure, Begabungsforscher, Streitschlichter denn als Unterrichtende. Hauptschullehrer wissen, dass außer den "ganz normalen" Schülern aus relativ heilen Familien viele ihrer Schüler einen großen Problemrucksack mit sich herumschleppen, dessen Inhalt aus einer fremden Lebenswelt stammt. Sie wissen auch, dass es häufig an den sprachlichen Fähigkeiten hapert, Rechtschreibung, Grammatik, Wortschatz. Hauptschullehrer wissen, dass vielen ihrer Schüler etwas fehlt: Biss zum Beispiel, die Bereitschaft, auf kurzfristige Vorteile zu verzichten, um langfristige Vorteile zu erzielen, Zuverlässigkeit und weitere "Soft Skills" wie Pünktlichkeit und Höflichkeit.

Beschäftige an Hauptschulen tragen zur Stabilisierung der Gesellschaft bei

Aber: Sie arbeiten daran, auch wenn das mühsam ist und nicht immer gleich ein Erfolgserlebnis kommt. Sie erklären, warum ein freundlicher Gruß nichts mit Schleimen zu tun hat. Sie entschuldigen sich in aller Deutlichkeit, wenn sie selbst etwas vergessen haben. Und die junge Klientel besteht - wie nicht oft genug beteuert werden kann - aus einer ungeheuren Vielfalt an Individuen. Junge Menschen, denen es schwerfällt, sich in einem Alter für einen Beruf zu entscheiden, in denen ein Gymnasiast gerade mal seine Pubertät auszuleben beginnt. Junge Menschen, die von anderen Schularten ausgesondert und zurückgeschickt worden sind - zurück an die Hauptschule. Junge Menschen, von denen viele dann doch die Zähne zusammenbeißen und auf einen guten Abschluss und Beruf hinarbeiten.

Gerade hier sind Kinder aus geflüchteten Familien oft vorne dran: Sie wissen wohl, was auf dem Spiel steht und dass der Schlüssel zu einem besseren Leben Bildung heißt. Und weil wir Lehrer wissen, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen müssen, wissen, dass wir es diesen einzelnen jungen Menschen schuldig sind, dass wenigstens wir uns für sie einsetzen, tun wir etwas. Wir setzen auf Berufsorientierung, gehen Bewerbungen immer wieder durch, erklären, warum Flapsigkeiten beim Arbeitgeber nicht auf Anklang stoßen und ermuntern zu Praktika. Wir selbst versuchen zu lernen, wie man Meister der Binnendifferenzierung wird, um allen Leistungsniveaus gerecht zu werden. Wir besuchen Fortbildungen zu Themen wie "Gewaltprävention", "Armut und Begabung", "Interkulturelle Kommunikation" und neuerdings "Inklusion" - auch diese gewaltige Herausforderung sollen wir stemmen.

"Nicht mehr zu retten"

Das Modell Hauptschule sei "nicht mehr zu retten". Der Satz war eine Art Todesstoß für die Schulform; er kam 2011 vom damaligen sächsischen Kultusminister Roland Wöller, mit der Bundesministerin Annette Schavan definierte er die Schulpolitik der CDU offiziell neu. Und seitdem haben auch konservative Regierungen vom dreigliedrigen System Abschied genommen, meist wurden Haupt- und Realschulen fusioniert und als zweite Säule neben dem Gymnasium etabliert.

Heute setzen lediglich Bayern (dort wurden die Haupt- zu Mittelschulen) und Hessen auf Dreigliedrigkeit, in anderen Bundesländern haben sich aber noch einzelne Hauptschulen neben den neuen Hybriden gehalten. Die Zahl der Hauptschüler bundesweit ist so laut Statistischem Bundesamt in den vergangenen zehn Jahren stark gesunken. Besuchten 2006 fast eine Million Kinder die Schulart, waren es zuletzt noch gut 600 000. Das sind nur 14 Prozent aller Schüler - die Silbe "Haupt" tragen Hauptschulen also längst nicht mehr mit Berechtigung. Vor allem auf dem Land sind Fusionen oft die einzige Chance, um Standorte zu erhalten. Zum Eifer der Minister trug aber die berüchtigte "Abstimmung mit den Füßen" bei. Eltern, gerade in Städten, wollen ihr Kind tunlichst vor der Hauptschule bewahren. Übrig blieben Einrichtungen für die Schwächsten. Mit Folgen für das Ansehen: Laut einer Analyse von Lehrstellenangeboten durch den Deutschen Gewerkschaftsbund waren die Hauptschüler in 61,6 Prozent der Offerten ausgeschlossen.

Letztlich bedeutet die Abschaffung der Hauptschulen aber nicht die Abschaffung dieses Abschlusses. Auch an Oberschulen oder wie die neuen Schulformen auch heißen mögen, macht im Regelfall mindestens ein Drittel der Schüler "nur" den Hauptschulabschluss - und nicht mittlere Reife. Johann Osel

Hauptschullehrer tun wirklich viel für ein friedliches Miteinander; auch wenn ihre Schulart so oft negativ wahrgenommen wird. Ja, es stimmt schon, bei Umfragen kommt heraus, dass die Lehrer an dieser Schulart nicht vom Gefühl eines rauschenden Erfolgs getragen werden, und dass die Schüler nicht als Sieger vom Platz gehen. Aber Tag für Tag versuchen Lehrkräfte, junge Menschen zu motivieren und zu stabilisieren. Sie versuchen es mit dem, was ihnen zur Verfügung steht an Empathie und Klarheit, an Herzenswärme und Durchsetzungsvermögen. Sie machen es nicht immer optimal, aber sie gehen dabei meist an und oft über ihre Grenzen. Sie schlichten und hören zu, sie leisten Beziehungsarbeit und muntern auf, sie machen sich unbeliebt, weil sie Regeln einfordern und Konflikten nicht aus dem Weg gehen.

Ich behaupte keck: Wenn sie nicht wären, und wenn sie das nicht täten, würde aus der Vielfalt ganz schnell etwas anderes als ein friedliches Miteinander. Es könnte sein, dass Heinrich seinem Banknachbarn Kaan gleich an die Gurgel geht? Deeskalieren! Luljeta wird von Weinkrämpfen geschüttelt? Eine kleine Zuflucht im Nebenräumchen schaffen und gesprächsbereit sein! Jenny erzählt dramatisch über Drogen? Aufmerksam sein, selbst auf die Gefahr hin, dass sie sich nur wichtigtun will! Yusuf wird womöglich zu Hause geschlagen? Wachsam sein, Gesprächsbereitschaft signalisieren, aber nicht voreilig sein - Familien sind schnell zerstört.

Genau genommen tragen alle, die an der Hauptschule arbeiten, nicht nur zur Stabilisierung der Schülerschaft bei, sondern auch zur Stabilisierung der Gesellschaft - indem sie die Schwächeren stützen und stärken, auf dass diese die Gesellschaft nicht als ihren Gegner betrachten, sondern willig ihren Platz dort suchen. Das mag jetzt so klingen, als gehe es um Mitleid oder Lob. So ist es nicht. Ich möchte in der aktuellen Flüchtlingssituation das Augenmerk auf das richten, was unsere Schulart den anderen voraushat: eine unglaubliche Menge an Erfahrungen mit Fremdheit und Vielfalt. Mit diesem Vorsprung kann man keine Elite-Rankings anführen, aber man kann vieles weitergeben. Interesse vorausgesetzt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: