Schule:"Einfach keine Lust"

Schule: Jugendliche, die sich überhaupt nicht für die Schule motivieren können, kommen oft aus bildungsfernen Familien. (Symbolbild)

Jugendliche, die sich überhaupt nicht für die Schule motivieren können, kommen oft aus bildungsfernen Familien. (Symbolbild)

(Foto: imago Stock&People)

In den östlichen Bundesländern brechen deutlich mehr Jugendliche die Schule ab als in den westlichen. Das liegt nicht nur an den Verhältnissen, in denen sie aufwachsen.

Von Johannes Böhme

Bei David, 14, kündigt es sich schon lange an, dass es schwierig wird mit dem Schulabschluss. An seiner Intelligenz liegt es nicht. Das Problem dieses großen Jungen, der schleppend redet, als hätte man ihn eben erst aufgeweckt, liegt woanders. "Ich habe einfach keine Lust auf Unterricht", sagt er. "Überhaupt keine Lust. Ich habe im Unterricht geschlafen. Habe gestört. Es gab ganz viele Gespräche, wo gesagt wurde: Der fliegt von der Schule, wenn er so weitermacht. Aber ich dachte: Das passiert ja sowieso nicht."

Es ist dann doch passiert, nachdem David einem Lehrer gedroht hatte, mit einem Messer auf ihn loszugehen. Die Polizei war bei ihm zu Hause, David wurde vom Unterricht suspendiert, wurde kurz darauf von der Schule verwiesen. Aber das war nur der Endpunkt einer langen Entfremdung: David hatte monatelang keine Hausaufgaben gemacht, er hatte geschwänzt, im Unterricht geschlafen, eine Fünf und Sechs nach der anderen bekommen. Und jetzt war er, zumindest für einige Wochen, von der Schule befreit. Er lebte vor sich hin, saß oft nächtelang vor dem Fernseher und schlief am Tag, während seine Mutter putzen ging, um das Geld zu verdienen.

David, der in Wirklichkeit anders heißt, ist ein typischer Kandidat für den Schulabbruch. Alleinerziehende Mutter, "bildungsferne" Familie, wenig Geld. Und: Er ist in Ostdeutschland großgeworden, in Wismar, Mecklenburg-Vorpommern, direkt an der Ostsee. Seit Jahren ist der Anteil der Jugendlichen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, in den neuen Bundesländern deutlich höher als im Westen. Laut einer Caritas-Studie, die vor einigen Wochen veröffentlicht wurde, ist es in Sachsen-Anhalt jeder zehnte, in Mecklenburg-Vorpommern sind es acht Prozent. Der Bundesschnitt liegt bei knapp sechs Prozent.

Seit Jahren kämpfen Schulen und soziale Einrichtungen an Orten wie Wismar gegen die hohe Schulabbrecherquote. In Wismar ist man heute schon froh, dass es nicht mehr so schlimm ist wie noch im letzten Jahrzehnt: 2009 gingen 21,1 Prozent der Schüler ohne Hauptschulabschluss ab, mehr als jeder fünfte. Die Quote sank danach zwar auf 14,3 Prozent im Jahr 2011, dem letzten Jahr, in dem diese Zahlen für die Stadt gesondert ermittelt wurden. Doch in Nordwest-Mecklenburg, dem Landkreis, dem Wismar seither angehört, ist die Quote mit neun Prozent noch immer die höchste in Mecklenburg-Vorpommern. Woran liegt das? Und was kann man dagegen tun?

Viele Kids ziehen schon mit 17 oder 18 aus

Stine Stefan, 34, und Bernd Schindler, 50, nennen die Menschen, die sie betreuen, "Klienten". Das klingt erwachsener, geschäftsmäßiger, als diese Beziehungen tatsächlich sind. Stefan und Schindler sind Sozialpädagogen. Sie betreuen in einer Plattenbausiedlung in Wismar-Friedenshof Jugendliche, die den Schulbesuch abgebrochen haben. Für diesen Morgen hatte Stefan zwei Termine vereinbart. Beide Klienten sind nicht gekommen. Sie kennt das schon. Wenn es gut läuft, erzählt sie, sagen die Jugendlichen wenigstens noch per Whatsapp ab. "Bei unseren Leuten braucht man eine Woche vorher überhaupt keinen Termin abmachen. Es kommt manchmal vor, dass ich vier Termine am Tag habe, und keiner von denen kommt."

Die Familien, aus denen diese jungen Menschen stammen, sehen häufig so aus: alleinerziehende Elternteile, die mit ihrem Leben überfordert sind, Arbeitslosigkeit, häufig kommen Alkohol, Drogen oder psychische Krankheiten dazu. "Es sind Eltern, die nicht die Kraft aufbringen, sich mit ihren Kindern auseinanderzusetzen", sagt Stefan. "Die schaffen es nicht, ihre Kinder morgens zu wecken, sie dazu zu bewegen, aufzustehen, die Tasche zu packen und auch wirklich in die Schule zu gehen. Das ist für manche zu viel." Viele Kids ziehen schon mit 17 oder 18 aus, "weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten", sagt Schindler.

Für viele ist der Abbruch eher Befreiung als Niederlage

Die Sozialpädagogen sind dann als Unterstützung im Alltag gefragt. Sie helfen ihren Schützlingen dabei, ihre Rechnungen zu zahlen - Miete, Strom, Handy. Sie helfen mit Anträgen beim Arbeitsamt, mit Jobbewerbungen. Und sie erinnern die Jugendlichen immer wieder daran, dass es Möglichkeiten gibt, den Schulabschluss nachzuholen. Das Problem: Für viele ist der Abbruch eher eine Befreiung als eine Niederlage. "Es heißt dann oft, da wurde ich gemobbt, das tue ich mir nicht mehr an", erzählt Schindler. "Wir haben einige Jugendliche, die fast gar nicht mehr rausgehen. Die haben enorm starke soziale Ängste."

In Wismar haben viele dieser Familiengeschichten, Geschichten von Menschen, die in Lethargie und Passivität gefangen sind, ihren Anfang in der Zeit nach der Wende. Tausende Arbeitsplätze wurden gestrichen, jeder fünfte Bewohner verließ die Stadt. Ganze Wohnblöcke standen leer und wurden abgerissen. Und bei vielen, so beschreiben es Stefan und Schindler, machte sich das Gefühl breit, nicht mehr gebraucht zu werden. Das Gefühl, dass es keinen Unterschied macht, ob man sich anstrengt oder hängen lässt.

Die Wirtschaft in Wismar hat sich mittlerweile erholt, die Stadt zieht heute Touristen an, die Altstadt ist Weltkulturerbe, die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. Aber Schulabbrecher stellt auch heute keiner ein, weder im Hotel noch in der Werft.

Die sozialen Probleme, das ist die eine Seite. Doch es gibt noch eine zweite Ursache für die nach wie vor überdurchschnittlich hohe Quote der Abbrecher. Sie liegt im ostdeutschen Schulsystem begründet.

Bis heute wird in den neuen Bundesländern sehr viel rigoroser zwischen guten und schlechten Schülern unterschieden. Der Leistungsgedanke ist stark ausgeprägt, was sich in den guten Pisa-Ergebnissen widerspiegelt, die Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern erzielen. Die Kehrseite: Wer die Ansprüche nicht erfüllt, fällt leichter hinten runter. Der ehemalige Bildungsminister Mecklenburg-Vorpommerns, Mathias Brodkorb von der SPD, gab 2015 damit an, dass man die Schulabbrecherquote "problemlos auf das westdeutsche Niveau absenken" könne, "wenn wir einfach die Leistungsanforderungen an die Schülerinnen und Schüler verringern würden". Aber, so Brodkorb, "das wäre Betrug an der Öffentlichkeit und jenen Schülerinnen und Schülern, die sich anstrengen und den Abschluss durch eigene Leistung schaffen."

Ein Ausdruck dieser Haltung ist die hohe Zahl der Förderschüler, die wiederum mehr als die Hälfte der Schulabbrecher stellen. In Ostdeutschland wurden und werden deutlich mehr Kinder auf Förderschulen geschickt als im Westen. Nirgendwo ist ihr Anteil so hoch wie in Mecklenburg-Vorpommern. 2009 waren es mehr als neun Prozent, 2015 immer noch knapp sieben Prozent aller Schüler. Der Bundesschnitt liegt bei 4,6 Prozent.

Es entsteht "durch Cliquen oft ein richtiger Sog"

Clemens Hillenbrand, Bildungswissenschaftler von der Universität Oldenburg, sieht dies auch als Folge der Wiedervereinigung: "Nach der Wende ging die Zahl der Förderschüler enorm in die Höhe. Das hat auch mit einer großen Verunsicherung zu tun. Es wurde viel Wert auf Leistung gelegt." Diejenigen, die nicht mitkamen, landeten schneller auf Sonderschulen. "Inzwischen wird das wieder reduziert, aber die Diskrepanzen sind immer noch da."

Bei den gefährdeten Schülern, sagt Hillenbrand, entstehe "durch Cliquen oft ein richtiger Sog, der sie aus der Schule zieht". Das passiere besonders an Schulen mit großem Leistungsdruck, die zu wenig Personal haben, um sich um ihre Schüler einzeln zu kümmern.

Was hilft, ist altbekannt, aber zugleich in der Praxis schwer umzusetzen: Aufmerksamkeit, viel Zeit und Anstrengung von Lehrern und Pädagogen. "Es bringt erstaunlich viel, wenn Lehrer und Sozialpädagogen individuell auf diese Schüler eingehen, sich Zeit mit ihnen nehmen", sagt Hillenbrand. "Bei fast allen Menschen, die aus einem sehr schwierigen Umfeld kommen und trotzdem eine gute Entwicklung durchlaufen, gibt es irgendwann eine Lehrerin oder einen Lehrer, der an sie geglaubt hat, der sich mit ihnen auseinandergesetzt hat. Oft bekommen die Lehrer das selber gar nicht mehr mit, was für einen Effekt sie gehabt haben."

In solch einem Umfeld soll es nun auch David doch noch zu einem Schulabschluss bringen.

Nachdem er von der Schule geflogen war, kam er vor sechs Monaten in eine spezielle Modellklasse in Wismar: die "Schulwerkstatt", ein Projekt der Arbeiterwohlfahrt. Die zwölf Schüler, alles Jungs, haben ihr eigenes Gebäude, auf einem Hügel gelegen, mit Blick auf die Ostsee. Es gibt eine Holzwerkstatt, einen Kräutergarten. Und es gibt Pädagogen, die sehr viel geduldiger mit ihnen umgehen, als die Lehrer an den Schulen es konnten.

"Wir sind wie eine kleine Familie", sagt Heike Liszka-Platow, 52, die für die Gruppe zuständig ist. Ihre Aufgabe ist es, mit den Jugendlichen zumindest einen Anfang zu schaffen - und den widrigen Bedingungen zu trotzen. "Die Eltern und das gesamte soziale Umfeld sind natürlich das Hauptproblem", sagt Liszka-Platow. "Aber es ist auch so, dass die Schule selbst nicht die richtigen Bedingungen liefert. Es greift nicht ineinander. Wir können hier ganz anders arbeiten."

Gerne kommt David immer noch nicht zum Unterricht, am liebsten, sagt er, mag er die Pausen. Aber die Hauptsache ist: Er kommt.

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