Schule:Auf der Suche nach dem perfekten Matheunterricht

Lehrer in Niedersachsen

Eine junge Lehrerin schreibt an eine Schultafel im Mathematikunterricht einer 8. Klasse an einer Integrierten Gesamtschule in Hannover.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Nach einer frustrierenden Probeklausur bangen viele Hamburger Schüler dem zentralen Matheabitur entgegen. Wie können Lehrkräfte das Fach besser vermitteln?

Von Thomas Hahn, Hamburg

Die Schönheit der Mathematik fiel Hannes von Allwörden schon in seiner Jugend auf. Er ist in Otterndorf, Niedersachsen, zur Schule gegangen, und im Rückblick kann er sagen, dass er dort eine gute Einführung in das Fach bekam. Es gefiel ihm, wie Formeln und Gleichungen seinem Denken Rhythmus gaben, wie sich damit Behauptungen beweisen ließen und Probleme der Wirklichkeit Strukturen aus Zeichen und Zahlen bekamen. Im Studium an der Universität Hamburg vertiefte sich die Beziehung. "Ich habe mich immer mehr in die Mathematik verliebt."

Mittlerweile sitzt Hannes von Allwörden an seiner Doktorarbeit in angewandter Mathematik. Danach will er Lehrer werden, und er weiß auch schon, wie er den Schülern die Mathematik dann näherbringen will: als Fach der Vielfalt nämlich, das konkrete Berechnungen ermöglicht, aber auch Einblicke in eine abstrakte Ideenwelt bietet.

Hannes von Allwörden, 27, feingliedrig, humorbegabt, gehört zu den Zukunftshoffnungen eines Faches, das wie kaum ein anderes missverstanden und gefürchtet wird. Mathematik ist für viele Schüler der Grund, die Schule zu hassen, eine ewige, unbezähmbare Schikane, deren Sinn sich ihnen nicht erschließt. Diese Abneigung ist vermutlich so alt wie das Fach selbst. Die Mathematik erfordert nun mal Talente, die nicht jeder besitzt. Und doch stellt sich die Frage nach der Qualität des Mathematikunterrichts ständig neu. Denn eigentlich ist die Mathematik viel zu vielschichtig und spannend, als dass sie einen Status als Spaßbremse und Notenschnitt-Verderber verdient hätte.

Gerade in Hamburg ist die Debatte zuletzt wieder aufgeflammt, weil eine Aktion des Schulsenators Ties Rabe Aufsehen erregte. Der Stadtstaat hadert schon lange mit den Mathenoten seiner Schüler und blickt nun etwas bange auf den kommenden April, wenn die Jugendlichen erstmals ein länderübergreifendes Zentralabitur bestehen müssen. Eine Probeklausur im Dezember fiel so schlecht aus, dass Rabe den Notenschnitt kurzerhand von 4,1 auf 3,1 heraufsetzte.

Mit zusätzlichen Übungsstunden und Nachhilfeangeboten in den Frühjahrsferien sollen die Schulen die Abiturienten jetzt vor der Abschlussprüfung unterstützen. Ein Wettlauf mit der Zeit hat begonnen. Und nicht nur Fachverständige fragen sich, ob das noch etwas mit echtem Mathematikunterricht zu tun hat, wenn Schüler fast nur noch darum bemüht sind, halbwegs vernünftige Noten zu erreichen.

Reiner Lauterbach und Janko Latschev, Mathematikprofessoren an der Universität Hamburg, sitzen in Latschevs engem Büro im Geomatikum und lassen die Gedanken schweifen. Die Schulbehörde hat 2015 Neuerungen beschlossen, die ihnen gefallen: Die Mindeststundenzahl in Mathematik ist auf vier pro Woche an Stadtteilschulen und Gymnasien gestiegen. Außerdem soll es dort ab 2017/18 keinen Mathematikunterricht mit fachfremden Lehrkräften mehr geben. Und an Grundschulen werden künftig immerhin 50 Prozent der Stunden von Fachlehrern erteilt. Allerdings waren die Verbesserungen auch nötig. "Es gab in Hamburg lange einen spürbaren Anteil von Unterricht, der nicht von ausgebildeten Mathematiklehrern erteilt wurde, sondern von Lehrern anderer Fächer", sagt Latschev.

"Der Unterricht hat sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt"

Aber die Bedenken der Professoren reichen weiter. Sie spiegeln einen Kampf um die Lehre der Zukunft, der über Stundenzahlen und Noten hinausweist. Es geht um Inhalte. Um die Frage, ob Hamburger Schüler überhaupt noch eine Chance bekommen, die Mathematik als komplexe Grundlagenwissenschaft zu begreifen. Viele Experten bezweifeln das. "Der Unterricht hat sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt", sagt Latschev, "ohne hinreichende Erkenntnisse darüber zu haben, ob das, was man verändert hat, besser ist."

Verschiedene Vergleichstests wie die internationale Pisa-Studie haben Schulpolitiker zu Lehrplanreformen veranlasst. Außerdem sollte der Bezug des Faches zur Lebenswirklichkeit deutlicher werden. In Hamburg hat das dazu geführt, dass die sogenannte Modellierungskompetenz als Ziel des Unterrichts mehr Gewicht bekommen hat. "Modellierung heißt: Ich habe ein Problem aus der Wirklichkeit und versuche es in ein Stück Mathematik zu übersetzen", erklärt Latschev.

Viele Fachwissenschaftler sehen in dieser Ausrichtung den Trend zu einer gekünstelten Mainstream-Mathematik, die wichtige Techniken des mathematischen Arbeitens vernachlässigt. "Diese Modellierungsaufgaben stellen relativ einfache Fragen", sagt Lauterbach, "man wird dort nicht zum logischen Denken, zum Zusammenfügen von Schlüssen aufgefordert." Latschev ergänzt: "Man bringt den Schülern nur ein sehr begrenztes Arsenal an mathematischen Werkzeugen bei und schneidert dann die Anwendungsaufgaben passend zu diesem begrenzten Arsenal."

Aus Sicht der Kritiker bringt das für den Wirklichkeitsbezug wenig. Eine Modellierung, die diesen Bezug leisten würde, finden sie für die Schule zu komplex. "Wenn Sie zum Beispiel die Bewegungen von Strömungen berechnen wollen, dann müssen Sie enorm viel Mathematik können", sagt Lauterbach, "und zwar schwierige Mathematik, die mit der Schulmathematik nichts zu tun hat."

Den perfekten Mathematikunterricht wird es wohl nie geben. Das Leistungsprinzip im Schulsystem verhindert, dass Schüler das Fach als reine Ideenwerkstatt erleben, in der man Lösungsformeln für konkrete Probleme sucht. "Im idealen Unterricht würden Noten vielleicht überhaupt nicht vorkommen", sagt Lauterbach, "stattdessen viel Freiheit, viel Gespräch, viel Zeit." Echte Vollblut-Mathematiker könnten dem Unterricht vielleicht etwas mehr Tiefe geben. Aber werden solche Mathematiker wirklich Lehrer? Hamburgs Lehramtsanwärter kommen jedenfalls als Studenten der Erziehungswissenschaften an die mathematische Fakultät. Einer wie Hannes von Allwörden, der erst promoviert, um dann an die Schule zu gehen, ist eher die Ausnahme. Auf jemandem wie ihm ruhen deshalb besondere Hoffnungen von Verfechtern einer reineren Mathematiklehre an der Schule.

Hannes von Allwörden mag keinen Kulturpessimismus. Hamburgs Tradition mäßiger Mathenoten will er nicht überbewerten, denn: "Hamburg hat andere Ausgangsbedingungen als ein Flächenland." Den Lehrplan betrachtet er milder als die Professoren. "Es gibt einen Schwerpunkt zur Modellierung. Aber es ist nicht so, dass gar nichts anderes gemacht wird."

Der Doktorand liest in dem Plan auch die Freiheit, den Schülern Mathematik so beizubringen, wie er sie kennengelernt hat: als eine Art Sprache des Lebens, die zunächst einfache Rechnungen mit Äpfeln und Birnen in Zahlen übersetzt - und später komplexe Fragen in solche Formeln, wie sie in seinem Arbeitszimmer an der Tafel stehen; die Gleichungen erzählen von den Gesetzmäßigkeiten in einem Aufwindkraftwerk. "Letztlich hängt es vom Lehrer ab", sagt Hannes von Allwörden und freut sich darauf, den Kindern eines Tages die Schönheit der Mathematik zu erklären.

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