Schreiben lernen in der digitalen Welt:Stift statt Taste

Digitalisierung der Kindheit

Kompetenzstreit zwischen Schönschrift und schnellem Tippen

Kinder tippen zunehmend auf Tastaturen, statt mit Stift und Papier zu schreiben. Das hat Konsequenzen für das junge Gehirn.

Von Markus C. Schulte von Drach

Welche Vor- und Nachteile haben digitale Medien für die schulische Entwicklung von Kindern? In der Vergangenheit stand die Befürchtung im Vordergrund, Computerspiele könnten schädlich sein. Insbesondere seit dem Durchbruch der Smartphones (seit 2007) und Tablets (seit 2010) hat die Frage nach der Bedeutung dieser Geräte allerdings eine ganz neue Dimension angenommen.

Schon viele Kleinkinder dürfen sich mit den Smartphones und Tablets ihrer Eltern beschäftigen, bei Grundschülern nutzten in Deutschland 2014 - je nach Quelle - bereits zehn bis 25 Prozent solche Geräte. Für 2015 sind weitere Zuwächse zu erwarten.

Viele Schulen - auch Grundschulen - reagieren inzwischen darauf und haben sich drei Ziele gesetzt:

  • Erstens die Kinder mit der Technik vertraut zu machen - schließlich kommt heute kaum jemand mehr um Textverarbeitungs-, Grafik- und Präsentationsprogramme herum.
  • Zweitens soll die Medienkompetenz erhöht werden, um Kindern etwa den vernünftigen Umgang mit sozialen Netzwerken und der Informationsflut aus dem Internet beizubringen.
  • Und drittens wird diskutiert, ob sich Tablets und Smartphones einsetzen lassen, um Kinder leichter schreiben, lesen, rechnen und zeichnen lernen zu lassen.

Im Ausland ist man schon einen Schritt weiter: In den USA sehen die "Common Core Standards", die den Schulen die Bildungsziele empfehlen, seit 2010 explizit das Schreiben mit der Tastatur bereits in der Grundschule vor. In Finnland wird die Schreibschrift Ende 2016 zugunsten des Tippens ganz aus den Lehrplänen verbannt. Nur eine einfache Druckschrift soll noch vermittelt werden. Schnelles und fehlerfreies Schreiben auf der Tastatur sei zudem "eine wichtige Kompetenz".

Entwicklungsschritte von Grundschulkindern bauen aufeinander auf

Nach Meinung nicht weniger Experten aber verkennen diese Ansätze die Komplexität des Schreibenlernens und seine Bedeutung für die kognitive Entwicklung von Kindern. Was hat es also für Konsequenzen, wenn Kinder eher lernen, mit dem Drücken auf Tasten zu schreiben als mit einem Stift auf Papier?

In der Grundschule stehen sie vor etlichen Entwicklungsschritten, die auf dem bereits Erreichten aufbauen. Dabei verändern sich die Verknüpfungen der Nervenzellen in ihren Gehirnen, und was sich dabei herausbildet, stellt die Grundlage dar für die folgende Hirnentwicklung. Das Lernen wichtiger Fähigkeiten erfolgt anfangs in relativ großen Schritten, dann wird das Erworbene immer stärker ausgefeilt. Und zwar je nach Anforderungen, Aufgaben und Anreizen, die die Umwelt an sie stellt.

360°: Digitalisierung der Kindheit

Schon die Kleinsten wischen auf Tablets, die Größeren können sich ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen. Ihre Kindheit verläuft ganz anders als die ihrer Eltern, aber muss das schlecht sein? Bietet nicht gerade der frühe Umgang mit neuen Medien auch Chancen? Wie Eltern ihren Nachwuchs auf dem Weg in die interaktive Welt begleiten, was sie selbst dabei lernen können - ein Schwerpunkt.

Da einmal Gelerntes sich in den Hirnschaltkreisen manifestiert, wird es schwierig, später wieder davon abzuweichen. Wer etwas nicht gelernt hat, dem fällt es mit der Zeit immer schwerer, es nachzuholen.

Das alles gilt auch für das Lesen und Schreiben - Kompetenzen, auf die die Evolution unser Gehirn nicht vorbereitet hat. Der "Leseschaltkreis" im Gehirn ist deshalb bei jedem einzelnen Kind "das Produkt von sorgfältig koordinierter, zeitlich präzise abgestimmter kognitiver, linguistischer Prozesse und Wahrnehmungsprozesse", schreibt etwa Maryanne Wolf von der Tufts University in Massachusetts. "Jedes Defizit in ihrer Entwicklung oder Koordination kann zu Problemen bei der Entwicklung des Lesens führen."

Es ist deshalb wichtig, wie Kindern diese Kompetenzen vermittelt werden. Schließlich ist gerade die Lese- und Schreibfähigkeit die grundlegende Voraussetzung des selbständigen Lernens - was wiederum hilft, zu lernen, selbständig zu sein.

Wie sich Tippen und Wischen vom Schreiben unterscheidet

Um zu verstehen, welchen Einfluss Smartphones und Tablets auf diese Kompetenzen haben können, muss man berücksichtigen, wie sehr sich das Tippen oder Wischen auf den Geräten vom Schreiben mit der Hand unterscheidet. Es kommt dabei zu sehr unterschiedlichen kognitiven Prozessen. Das Tippen ist eine einfache Bewegung, der Zusammenhang zwischen der Handlung und dem Ergebnis auf dem Bildschirm ist indirekt.

Wird der Buchstabe dagegen mit einem Stift erzeugt, so muss er aus dem Gedächtnis heraus auf die richtige Weise gezeichnet werden. Es leuchtet ein, dass der Anspruch größer und die visuelle, sensomotorische und kognitive Leistung des Gehirns höher ist: Die Hand führt den Stift, während das Auge kontrolliert. Das findet in dem Bewusstsein statt, dass das Ergebnis nicht einfach gelöscht und ausgebessert werden kann. Es ist wichtiger, Fehler zu vermeiden, da ihre Korrektur einen höheren Aufwand bedeutet.

Dazu kommt, dass Kinder, die Buchstaben Strich für Strich üben, lernen, dass viele Variationen, die sie produzieren, doch immer als A von einem B zu unterscheiden sind. Das hilft ihnen, das Prinzip von Kategorien zu verstehen.

Schnelles Tippen, weniger Zeit zum Nachdenken

Ein weiterer Unterschied bezieht sich auf die Tätigkeit des Schreibens selbst, etwa um Notizen festzuhalten. Das Schreiben mit dem Stift geht nur mit einer Hand. Getippt wird mit beiden Händen, Letzteres geht schneller. Deshalb hat das Gehirn während des Tippens weniger Zeit, beim Schreiben zu reflektieren, was notiert wird, und die Informationen im Gedächtnis abzuspeichern. Es wäre also schon theoretisch zu erwarten, dass das Schreiben von Hand nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene Vorteile haben könnte.

Das wird durch einige wissenschaftliche Studien bestätigt. So konnten Forscher des Institut de Neurosciences Cognitives de la Méditerranée in Marseille zeigen, dass ältere Vorschulkinder einzelne Buchstaben leichter mit dem Stift erlernen als mit einer Tastatur (Acta Psychologica 2005).

2006 hat ein Team von Forschern von der University of Washington in Seattle eine Studie veröffentlicht, die bei Schülern in den Klassen zwei bis fünf deutlich unterschiedliche Hirnaktivität belegte - je nachdem, ob sie mit Stift oder Tastatur schrieben. Vor allem aber beobachteten die Wissenschaftler, dass Kinder mehr Worte mit höherer Geschwindigkeit produzierten und mehr Ideen für Texte hatten, wenn sie mit dem Stift schrieben als mit der Tastatur (Developmental Neuropsychology 2006).

Im Rahmen einer Studie an der Indiana University Bloomington mussten Vier- bis Fünfjährige einzelne Buchstaben abzeichnen oder tippen. Die Kinder wurden anschließend in einen Kernspintomografen gesteckt, der ihre Hirnaktivität beobachtete. Sobald sie Buchstaben wiedererkannten, waren bei den Stift-Kindern Hirnareale besonders aktiv, die auch bei Erwachsenen mit dem Lesen und Schreiben zusammenhängen (Trends in Neuroscience and Education 2012). Die Lernprozesse hatten sich demnach im Gehirn niedergeschlagen - bei den Stift-Kindern allerdings deutlich stärker als bei den Tasten-Kindern.

Für Aufsehen sorgte zuletzt 2014 eine Untersuchung von Pam Mueller von der Princeton University und Daniel Oppenheimer von der University of California in Los Angeles. Immer mehr Studierende machen sich während der Vorlesungen Notizen mit dem Laptop statt mit dem Stift. Die Psychologen untersuchten, wie gut sich die Teilnehmer an den Inhalt von Vorlesungen erinnern konnten. Der Laptop, so ihr Schluss, könne von Vorteil sein, wenn es darum geht, mehr Notizen aufzuschreiben. Doch "die Tendenz der Laptop-Benutzer, die Vorlesungen wörtlich mitzuschreiben, statt die Informationen zu verarbeiten und in eigene Formulierungen zu übersetzen, war nachteilig für das Lernen" (Psychological Science 2014).

Konzentration auf das Wichtige

Die Studie bestätigt demnach die Annahme, dass das Schreiben mit der Hand dazu führt, Informationen stärker zu reflektieren, und so zu einem besseren Verständnis und Gedächtnis. Selbst wenn Studenten Zeit hatten, sich anhand ihrer Notizen auf Fragen vorzubereiten, schnitten jene besser ab, die mit der Hand mitgeschrieben hatten. Auch Wissenschaftler, die die Bedeutung der Handschrift für eher gering halten, zeigten sich von der Studie beeindruckt. So sagte der Psychologe Paul Bloom von der Yale University der New York Times: "Das Schreiben zwingt dich, dich auf das Wichtige zu konzentrieren. Vielleicht hilft das, besser zu denken." Um sich jedoch handschriftliche Notizen machen zu können, muss man das Schreiben gut gelernt haben.

Letztlich lässt es sich kaum vermeiden, dass unser Nachwuchs den digitalen Medien immer stärker ausgesetzt ist - und es ist vernünftig, zu prüfen, welche Möglichkeiten es gibt, sie bei Kindern sinnvoll einzusetzen. So gibt es Hinweise darauf, dass Lernsoftware helfen kann, etwa Vokabeln zu lernen. Manche Computerspiele sollen die Konzentrations- und Orientierungsfähigkeit, andere das Abstraktionsvermögen erhöhen.

Positive Effekte erst im zwölften Lebensjahr

Gerald Lembke, Experte für Digitale Medien an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim, ist allerdings skeptisch. Der SZ sagte er, er sei der Überzeugung, "dass digitale Hilfsmittel in der Bildung bis zum zwölften Lebensjahr keine nennenswerten positiven Effekte erbringen". Erst danach seien Kinder reif genug, Computer zum Lernen zielgerichtet einzusetzen. Und kaum jemand erwartet von Smartphones und Tablets ernsthaft, dass sie die Fantasie, Kreativität oder gar Empathie erhöhen. (Auch wenn es schon spezielle Programme gibt, die genau das versprechen.)

Die Geräte sind demnach vielleicht keine große Gefahr, solange die Eltern die Kinder damit vernünftig vertraut machen. Nicht zu früh, und ohne dass dadurch Erfahrungen mit den Mitmenschen leiden. Vielleicht lernen die Kinder dann sogar das eine oder andere schneller und besser. Aber noch befinden wir uns hier in einer Experimentierphase - und Eltern sollten sich bewusst sein, dass sie ihren Nachwuchs dabei freiwillig als Probanden zur Verfügung stellen, ohne zu wissen, was am Ende herauskommt.

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