Rückkehr zu G9:Sehnsucht nach der entschleunigten Schule

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Volle Konzentration aufs Lernen: Beim achtjährigen Gymnasium, so beklagen viele Eltern, fehle den Kindern die Zeit für Hobbys und Freunde. (Foto: dpa)

In Hessen passiert bereits, was anderswo nur Pläne sind: Etliche Gymnasien kehren zurück zum G9. Familie Thomsen-Weiler erlebt mit ihren Kindern beide Wege zum Abitur. Ein Besuch.

Von Roland Preuß, Dreieich

Die Hausaufgabenregelung, erzählt Helen, geht so: Wenn nachmittags Unterricht ist, dürfen die Lehrer keine Hausaufgaben geben, die am nächsten Tag erledigt sein müssen.

So sollen sie die Schüler entlasten. Aber wenn die Arbeit erst am übernächsten Tag gemacht sein muss, dürfen die Lehrer aufgeben, was sie wollen; selbst wenn der Schultag dazwischen auch bis in den Nachmittag reicht. Und so kommt es, dass Helen Thomsen, 14, dann doch öfter bis neun Uhr abends an ihren Hausaufgaben sitzt. "Ich mache wenigstens das Nötigste und das Aufwendigste", sagt sie. Denn dazwischen gibt es ja auch noch einiges zu tun: Reiten, Tennis, Gitarre und Klavier spielen, bis auf Dienstag sind alle Nachmittage fest verplant.

Meist doppelt verplant, weil Helen im achtjährigen Gymnasium schon in der 8. Klasse dreimal pro Woche nachmittags Unterricht hat. Donnerstags kommt sie erst um 17 Uhr nach Hause. "Ein Horrortag", findet ihre Mutter, Christel Thomsen.

Die Familie Thomsen-Weiler wohnt in einem Siebzigerjahrehaus in einem Stadtteil von Dreieich bei Frankfurt, Bauhaus-Stil, weiße Wände mit viel Grün drumherum, durch das Viertel führen breite Nebenstraßen, an denen einige Jugendstilvillen in großen Gärten stehen. Begüterte Bildungsbürger wohnen hier, viele ihrer Kinder gehen auf die nahe Ricarda-Huch-Schule, ein Gymnasium. Beste Voraussetzungen eigentlich, das Abitur schon nach zwölf Schuljahren zu schaffen.

Doch die Schulgemeinschaft - Lehrer, Eltern und Schüler - entschied sich mit großer Mehrheit dafür, wieder zum neunjährigen Gymnasium zurückzukehren. Helens Schwester Anne Zoė besucht deshalb eine fünfte Klasse, die wieder auf neun Jahre im Gymnasium angelegt ist.

"Da ist mir G9 schon lieber, weil ich da meine Hobbys weitermachen kann"

Hessen erlaubt in der hitzigen Debatte um das G8 einen Blick in die Zukunft. Hier hat man den Weg zurück zum G9 bereits angetreten, Dutzende Gymnasien bieten nun wieder mehr Zeit bis zum Abitur an. In Bayern und Hamburg wird darüber erst noch entschieden, etwa per Volksbegehren, das an diesem Donnerstag bayernweit startet. Auch in anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Berlin steht das G8 in der Kritik - und wird zum Teil erbittert verteidigt.

Muss es weg? Lohnt sich der Weg zurück zum G9? An der Ricarda-Huch-Schule hört man dazu sehr unterschiedliche Meinungen, ebenso wie in der Familie Thomsen-Weiler.

Wenn Christel Thomsen das Leben ihrer beiden ältesten Töchter mit dem ihrer eigenen Schulzeit vergleicht, fällt ihr besonders eins auf: Die beiden haben kaum noch Zeit, sich unter der Woche zu verabreden, mal zusammen ins Schwimmbad zu gehen oder zu einer Freundin. "Das finde ich irritierend." Mit ihren Töchtern finde sie nicht mal einen gemeinsamen Termin, um jetzt im Sommer in die Stadt zu fahren und Bikinis zu kaufen. "Zeit ist ein knappes Gut bei diesen Kindern."

Für Mutter Thomsen, eine Germanistin und Anglistin, steht das G8 für Schmalspurbildung, die Geisteswissenschaften, Kunst oder Musik zum Beiwerk degradiert hat, für das Hauptziel, den Pflichtstoff in Abitur-entscheidenden Fächern wie Mathematik oder Deutsch zu bewältigen. "Diese Breite an Bildung sollte sich unsere Gesellschaft leisten - diese Fächer haben die doch nie wieder."

Die älteren Töchter nehmen das G8 hin

Das ist der Punkt, an dem Heinrich Weiler, Bauingenieur, einhakt und auf das üppige Nachmittagsprogramm seiner drei Töchter verweist: Alle verbringen viel Zeit mit Reiten, spielen Tennis und mindestens ein Musikinstrument. "Sie haben sich für diese Hobbys entschieden und möchten nicht darauf verzichten", sagt er. Auch das erkläre den Zeitmangel. Die älteren Töchter nehmen das G8 hin, sie haben sich arrangiert. Sicher, der Nachmittagsunterricht sei schon anstrengend, sagt Helen. Unter der Woche treffe sie sich fast nie mit Freundinnen, man unterhält sich via Internet, chattet viel. Für mehr ist kaum Zeit. "Aber ich bin dann früher fertig mit dem Abitur", sagt sie.

Ihre ältere Schwester Antonia erreicht man derzeit nur per Skype, sie verbringt ein halbes Schuljahr in England. Sie besucht die 9. Klasse. "Ich find's gut, weil wir ein Jahr weniger Schule haben", spricht sie aus dem Laptop. Und danach wolle sie gleich studieren. Auszeiten oder weitere Auslandsaufenthalte sind nicht geplant.

Nur die jüngste Tochter Anne Zoė, 11, ist froh, dass ihr im neuen G9 das Nachmittagsprogramm ihrer älteren Schwestern erspart bleiben wird. Sie hat noch keinerlei Nachmittagsunterricht, und so wird es bis zur 9. Klasse auch bleiben. Sie betreibt die gleichen Hobbys wie ihre Schwestern und Jazztanz noch dazu. "Da ist mir G9 schon lieber, weil ich da meine Hobbys weiter machen kann." Dennoch bleibt ihr Zeit, sich mit ihren Freundinnen zu treffen, zu lesen, zu malen - und mit dem Hund Gassi zu gehen. "Für Helen hingegen ist das alles Zeitverschwendung", sagt Christel Thomsen, die Mutter.

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Die Umstellung der Ricarda-Huch-Schule auf G9 macht sich schon jetzt bemerkbar, obwohl sich der Stundenplan in der 5. Klasse dadurch kaum verändert hat. Die Biologielehrerin etwa gehe den Stoff nun spürbar entspannter an, weil sie wisse, dass sie mehr Zeit zur Verfügung habe, sagt Thomsen. "Es ist jetzt auch mal eine Exkursion drin, und Wiederholungen." Und die zweite Fremdsprache von der 6. Klasse an beginne nur noch mit drei Stunden pro Woche statt bisher fünf. "So viel Fremdsprache so früh, das war einfach zu viel." Wenn sie mit anderen Müttern aus der Klasse spreche, sei die Erleichterung über das Ende von G8 spürbar.

Von den Thomsen-Weilers sind es mit dem Auto fünf Minuten bis zum Gymnasium; zwischen Gärten, Mietshäusern und Hallenbad tauchen weiß-himmelblaue Quader auf. Gut 1200 Schüler sollen hier ihr Abitur erlangen, es ist ein großes Gymnasium. Man interpretiert die meisten Lehrer der Schule wohl richtig, wenn man sagt: Sie sind froh, dass es nun vorbei ist mit G8.

Leiter der Schule ist Knud Dittmann, 64. Am Ende seiner Beamtenlaufbahn hat er erreicht, wofür er sich als Vorsitzender des hessischen Philologenverbandes jahrelang eingesetzt hat: Das G8 ist zum Auslaufmodell geworden. In Stadt und Landkreis Offenbach, in dem die Schule liegt, wird vom kommenden Schuljahr an kein einziges staatliches Gymnasium mehr G8 anbieten. Alle haben sich für G9 entschieden. Dittmann stieß den Wandel in seiner Schule vor zwei Jahren an, als die damals schwarz-gelbe Landesregierung die Möglichkeit zum Wechsel eröffnete. Er schlug seinen Lehrern die Rückkehr zu G9 vor.

Das Problem ist die Reife

"Ich habe noch nie so viel Beifall in der Lehrerkonferenz bekommen." Mit 62 gegen 9 Stimmen stimmten die Pädagogen wenig später dem Wechsel zu. "Wir haben wieder unser G9-Gymnasium", sagt Dittmann.

Geteilter Meinung zum G8: Heinrich Weiler, die Töchter Anne Zoė, Helen, Antonia (per Skype) und Christel Thomson (von links). (Foto: Andreas Arnold)

Wer die Sehnsucht nach dem G9 verstehen will, muss sehen, was das G8 mit der Schule gemacht hat, wie es den Alltag der Lehrer verändert. Zum Beispiel von Jens Hoffmann, Lehrer für die Fächer Politik/Wirtschaft und Geschichte. Das Problem ist die Reife, sagt Hoffmann. Vor dem G8 habe er die Themen Demokratie und politisches System in der 10. Klasse behandelt, mit dem G8 wanderte der Themenblock in die 8. Klassen. Hoffmann will Debatten über aktuelle politische Probleme entfachen, das ist seine Vorstellung von gutem Unterricht. "In der 8. Klasse finden aber noch keine Kontroversen statt."

Die teils 13-jährigen Schüler umgibt eine ganz andere Welt, eine ich-bezogene, meist apolitische, ohne Nachrichten oder Polit-Debatten. "Das kann ich denen gar nicht übel nehmen." Die seien eben noch nicht so weit. "Aber wie sollen Menschen ohne politisches Bewusstsein Politikverdrossenheit als Problem wahrnehmen können?"

Anderes fiel im G8 ganz weg: Angebote für eine dritte Fremdsprache in der Mittelstufe, für Wahlpflichtfächer wie Theaterspiel, Informatik oder Arbeitsgemeinschaften zu allen möglichen Themen, die Bildung neben dem Pflichtkanon erlauben. Durch den Nachmittagsunterricht fehlte schlicht die Zeit. Ebenso wie für Schülerwettbewerbe, von "Jugend forscht" bis zum "Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten".

Dafür werde im G9 wieder Raum sein, sagt Schulleiter Dittmann - und für manche Neuerung auch. Das neue G9 soll mehr bieten als das alte. Ältere Gymnasiasten sollen weiterhin den jungen Mitschülern durch den Stoff helfen, Oberstufenschüler ein Praktikum im Ausland machen können.

"Warum sollte ich ein Jahr länger machen?"

Dennoch hat das G8 auch hier noch Anhänger. Man findet sie vor allem bei den G8-Schülern selbst, etwa im Grundkurs der 11. Jahrgangsstufe. Man komme meist um 15:30 Uhr nach Hause, sagt der 17-jährige Ruven. "Dann ist man geplättet, da macht man nicht mehr viel." Aber: "Ich kenne es nicht anders - und man ist früher fertig mit der Schule." Und Philipp fragt: "Ich komme gut zurecht, warum sollte ich ein Jahr länger machen?"

Am Ende die Abstimmung: Hier sind zehn Schüler für G8, nur sieben würden das G9 wählen. Vor allem, um weniger Stress zu haben.

In der Familie Thomsen-Weiler würde die Abstimmung wohl unentschieden ausgehen, doch dazu kommt es nicht mehr. Helen Thomsen muss weiter, sie wetzt nach oben in ihr Zimmer, kehrt zurück im blauen Kleid. Gleich fährt sie nach Frankfurt, wo sie zur Gala eines Unternehmens geladen ist. Monatelang durften die Schüler in einem Projekt der Schule und der Firma mitmachen und Ideen einschicken. Nun gibt es Preise. Wieder so ein Tag, der vollkommen durchgeplant ist.

© SZ vom 03.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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