Rolle von Schule und Eltern:Warum Bildung ohne Erziehung nicht funktioniert

Bildung und Erziehung

Helikopter-Perspektive: Wer ist für Bildung und Erziehung zuständig?

(Foto: dpa)

Manche Eltern kümmern sich um alles, andere um gar nichts. Und während Lehrer zunehmend auch erziehen sollen, geben Eltern Milliarden für Nachhilfe aus. Wer ist hier eigentlich für Bildung und wer für Erziehung zuständig? Möglicherweise ist der Streit darüber das eigentliche Problem.

Von Sabrina Ebitsch

Wenn die Tochter sich weigert, ihr Zimmer aufzuräumen, ist das ein Problem, aber Alltag. Wenn der Vater mit dem 15-jährigen Sohn am Samstagnachmittag auf der Couch sitzt und nicht Fußball, sondern Pornos guckt, ist das ebenfalls ein Problem. Vermutlich keines, das zum Alltag in den meisten Familien gehört, aber trotzdem mehr oder weniger Privatsache.

Wenn diese Probleme aber in die Schulen getragen werden, dann werden aus Privatangelegenheiten Symptome für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Wenn der Trotz von Teenagern und eine fragwürdige Auseinandersetzung mit Sexualität zum Thema in den Sprechstunden von Schulpsychologen werden (beides aus der Praxis stammende Beispiele), werden dann die ureigensten Rechte und Pflichten von Eltern an Bildungsinstitutionen outgesourct? Delegieren Familien ihre Erziehungsverantwortung an pädagogische Profis?

Recherche

"Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich?" Diese Frage hat unsere Leser in der zweiten Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Text ist einer von zahlreichen Beiträgen, die sie beantworten sollen. Alles zur Bildungsrecherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Wenn Eltern umgekehrt den Englischlehrer anrufen und sich beschweren, dass zu viele Vokabeln aufgegeben wurden, wenn sie über den Stoff ihrer Kinder besser Bescheid wissen als diese selbst, wenn die Reaktion auf eine Fünf in Mathe ein Schreiben des Anwalts ist, ist das ebenfalls ein Symptom. Drängen Eltern in den Verantwortungsbereich der Schulen? Misstrauen sie ihnen so sehr, dass sie den Bildungseinrichtungen ihre ureigenste Aufgabe streitig machen?

Es ist in jüngster Zeit viel über Helikopter-Eltern diskutiert worden. Jene Eltern also, die ihre Kinder außerhalb des Elternhauses wie Hubschrauber umkreisen, die Verkörperung einer lückenlosen Überwachung, allzeit bereit das tatsächliche oder vermeintliche Wohl ihres Kindes sicherzustellen oder dafür zu kämpfen.

15 Prozent der Eltern kümmern sich zu viel, 15 Prozent zu wenig

Gleichzeitig wird über einen Erziehungsnotstand in Deutschland diskutiert und über jene Eltern, die ihn entstehen lassen. Weil sie durch ihre Passivität, ihr Nichtkümmern eine Leerstelle im Leben ihrer Kinder schaffen, sei es aus ihrer eigenen problembeladenen sozialen Situation heraus oder aus Zeitmangel. Einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zufolge haben mehr als drei Viertel aller Lehrer Erfahrungen mit Eltern, die mit der Erziehung überfordert sind - und deren Kinder dann die Lehrer überfordern.

Diese zwei elterlichen Phänotypen sind kein Widerspruch, sondern die Statthalter zweier gegenläufiger sozialer Entwicklungen, die Extreme an den jeweiligen Enden einer pädagogischen Skala. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands und Autor des Buches "Helikopter-Eltern", das die jüngste Diskussion angestoßen hat, schätzt die Klientel seines Werks und deren Widerpart auf jeweils etwa 15 Prozent. "Die Eltern gibt es nicht. Ein Teil kümmert sich um nichts und das andere Extrem sind Eltern, die sich um alles kümmern."

Ein Drittel der Eltern, sagt auch der Soziologe und Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, ist mit der Erziehung überfordert. (Das bedeutet allerdings auch: Die große Mehrheit kommt gut zurecht). Aber: "Die Kluft ist größer geworden", sagt Hurrelmann. Das entspricht auch der Einschätzung von Gudrun Mildner, SZ.de-Leserin, Mutter und stellvertretende Schulpflegschaftsvorsitzende am Gymnasium ihrer Kinder. Die einen seien "völlig abgehängt", bei den anderen sei das "Projekt Kind von vorne bis hinten durchgeplant".

Sabine Kring, ebenfalls SZ.de-Leserin, Mutter zweier Kinder und Schulpflegschaftsvorsitzende hat da ebenso einschlägige Erfahrungen. Mit verdreckten Schultoiletten beispielsweise, weil es manchen Schülern egal sei, dass sie mit ihrem Verhalten die ganze Schule "terrorisieren", und deren Eltern genauso. "Mehrere Versuche, Kontakt aufzunehmen fruchten nicht. Und wenn man sie dann doch erreicht und Termine vereinbart, kommen sie einfach nicht." Mit der sozialen Schicht, betont Kring, habe das nichts zu tun.

Schulen müssen mehr leisten als früher - Eltern auch

Staatliche Institutionen können nicht alle Lücken, die die Erziehung zu Hause hinterlassen hat, stopfen. "Es werden Erwartungen an die Schule herangetragen, die sie gar nicht erfüllen kann", sagt Lehrerverbandspräsident Kraus. Die Delegation elterlicher und gesellschaftlicher Aufgaben an die Schule überfordere diese und das gehe zu Lasten des Bildungsauftrags. Symptom dafür sei die Inflation der Bindestrich-Fächer wie Medien-Erziehung oder Gesundheits-Bildung.

Allerdings muss (und kann) Schule mehr leisten als früher. Die Erziehung aus der Schule oder gar noch aus denen ihr vorgeschalteten Betreuungseinrichtungen für die Kleineren auszusperren, funktioniert nicht. Persönlichkeitsentwicklung findet nicht nur nach Schulschluss statt. Schule habe eine "wichtige erzieherische Funktion", sagt Kraus - schlicht durch den Umgang miteinander. Wie soll ein Lehrer unterrichten, wenn Schüler nicht pünktlich sind oder im Klassenzimmer ein Geräuschpegel wie im Hallenbad herrscht?

Zumal Kinder und Jugendliche mehr und mehr Zeit in der Schule oder in anderen Betreuungseinrichtungen verbringen, sei es in Krippen, Kindergärten, Horten. Durch die zunehmende Institutionalisierung von Betreuung und Bildung sickern Erziehungsaufgaben zwangsläufig durch die Wände der elterlichen Wohnung in Klassenzimmer und Gruppenräume von Kitas und Horten. Bei manchen, den überforderten Familien, ist das sogar ein Vorteil. Bei der Mehrheit ist es schlicht eine Tatsache.

Der Allensbach-Studie zufolge erwarten genau das auch fast zwei Drittel der Bevölkerung: Dass Lehrer Erziehungsfehler der Eltern korrigieren und Werte vermitteln. Und für Lehrer ist es wichtiger, ihren Schülern Ehrlichkeit und Rücksichtnahme mit auf den Weg zu geben als Allgemeinbildung. Ganztagesbetreuung, Schulsozialarbeit, Beratungs- und Vertrauenslehrer, Schulpsychologen und Sozialpädagogen gewinnen an Bedeutung. Noch vor zehn Jahren hat Kraus selbst vor der "Sozialpädagogisierung" der Schulen gewarnt, mittlerweile aber seine Meinung geändert. Jetzt gibt es auch an seinem Gymnasium im bayerischen Vilsbiburg einen Benimmkurs für Zehntklässler, freiwillig zwar, aber von den Eltern gewünscht.

Elternseminare für ein komplexer werdendes Bildungssystem

Genauso aber schwappen auch Bildungsaufgaben mehr und mehr in den elterlichen Verantwortungsbereich hinein, müssen die Eltern wie die Schulen mehr leisten. Jene, die 1,5 Milliarden Euro für Nachhilfe ausgeben, die klagen, ihre Nachmittage am Schreibtisch ihrer schulpflichtigen Kinder zu verbringen, gehören nicht alle zur Helikopter-Fraktion. Sie gehören vor allem zu den zwei Dritteln in der Mitte, die sich mehr und vielleicht auch mal zu viel Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen. Die sich aber auch mit einer immer unübersichtlicher werdenden Lebens- und Arbeitswelt konfrontiert sehen.

"Das Bildungssystem ist komplexer, die Anforderungen sind höher geworden", sagt Hurrelmann und meint damit Ausbildung, Beruf und das Leben selbst. Er fordert seit längerem verpflichtende Fortbildungen für Eltern und bietet mit dem ehemaligen Schulleiter Adolf Timm Elternseminare für künftige "Lernbegleiter" an. Der Erziehungsprozess selbst, aber auch das Kind so zu motivieren, dass es selbstständig, leistungsfähig und sozial verantwortlich werde, sei "eine Kunst, die man lernen kann". Viele Eltern machten den Kardinalfehler, Kinder unter einen starken Leistungsdruck zu setzen und erreichten das Gegenteil.

Auch Kraus warnt davor, dass Eltern zu den "Nachhilfelehrern der Nation" werden. "Dafür ist die Schule da. Ich kann Eltern nur sagen: Haltet euch raus! Der Lehrer will sehen, wie das Kind die Dreisatzlösung hinbekommt." Ganz abgesehen davon, dass es für die Lehrer ein wichtiges Diagnostikum sei, werde so auch jede Eigeninitiative erstickt. "Sonst haben wir eine Pervertierung: Die Schule delegiert die Bildung an die Eltern und die Eltern die Erziehung an die Schule."

Die Recherche zum Schulsystem: Bildung, wie wir sie brauchen

"Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich?" - das wollten unsere Leser in der zweiten Runde von Die Recherche wissen. Mit einer Reihe von Artikeln versuchen wir diese Frage zu beantworten.

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