Präparationskurse für Medizinstudenten:Mit viel Respekt für die Toten

Es ist sicher nicht die angenehmste Pflichtveranstaltung für einen Medizinstudenten - aber dennoch eine der wichtigsten: Der Präparationskurs, die Ausbildung an Leichen. Doch es gibt keine Alternative zu dieser Herausforderung, die nicht alle meistern.

Kevin Schrein

Sofie Prestel steht mit ausgestreckten Armen vor Leichnam 70/10. Es ist der 70. Körperspender des Jahres 2010 der Universitätsmedizin Heidelberg, mehr als eineinhalb Jahre lagerte er in der Kühlung. Es ist ein Mann, 50 Jahre oder älter. Mehr weiß Sofie nicht. Mit Pinzette und Skalpell versucht die 25-Jährige, die ergraute Haut zwischen Nacken und Schulter von der Fettschicht darunter zu lösen.

Sie ist zu zaghaft, der Hautlappen entgleitet immer wieder ihrem Griff. Sie müsste näher an die Leiche rücken, das Schneiden würde ihr so leichter fallen. Doch der stechende Geruch lässt sie verharren. "Daran muss ich mich erst gewöhnen", sagt Prestel.

Etwa 400 Abiturienten haben diesen Herbst ihr Zahn- und Humanmedizinstudium an der Universität Heidelberg begonnen, bundesweit sind es 10.500. Jeder von ihnen wird im Laufe seines Studiums einen Präparationskurs belegen müssen. Über Dauer und Zeitpunkt entscheiden die Universitäten. Heidelberger Studenten trifft es im ersten Semester, in Jena und Berlin zieht es sich vom ersten bis ins dritte.

In Heidelberg stehen den 400 Debütanten 20 Körperspender zur Verfügung. In zwei Gruppen aufgeteilt, präparieren je zehn Studenten fünf Monate lang eine Leiche, die zuvor mit einer Lösung aus Ethanol, Glycerin und Wasser balsamiert wurde. Unter der Aufsicht von Dozenten und Tutoren blicken sie in das Innere des Menschen, legen Muskeln frei und schauen sich Herz und Leber an. "Wir öffnen mit den Studenten die Motorhaube und schauen, was darunter ist", sagt Joachim Kirsch, Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Universität Heidelberg.

Sofie ist einen Schritt auf den Leichnam zugegangen. Sie kommt voran, der Hautlappen ist größer geworden. Neben ihr steht Katrin Stelzer, 29, und versucht sich am Nacken des Toten. "Ich glaube, es gibt Menschen, die das mögen, und welche, die das nicht mögen. Ich gehöre zu den letzteren." Sofie nickt. Vor ihrem Studium hat sie eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen-Assistentin gemacht. Mit Toten hatte Sofie noch nie zu tun.

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Für viele Studenten ist die Begegnung mit dem Tod eine Herausforderung, oft der bewegendste Moment der Ausbildung. Einige zittern, manche weinen, ein paar straucheln. Doch kaum jemand bricht deshalb sein Studium ab. In den vergangenen acht Jahren gab es in Heidelberg nur einen Fall.

Anstrengender als gedacht

Joachim Kirsch kennt die Angst aus eigener Erfahrung. "Ich sage den Studenten, dass sie den Körperspender wie ihren ersten Patienten behandeln sollen." Nach dem Ende des Kurses zelebrieren die Studenten für die Angehörigen und sich selbst eine Trauerfeier. Dort erfahren sie zum ersten Mal den Namen ihres Patienten.

Die Häutung von Körperspender 70/10 kommt voran. Sandra Schwarz arbeitet am rechten Arm und legt die gelblich schimmernde Fettschicht frei. Der 23-Jährigen steht der Schweiß auf der Stirn, ihre Wangen erröten. Präparieren ist anstrengender, als sie dachte. Hinzu kommt die Nervosität, die sie mit einem Trick bekämpft. "Ich stelle mir das Pellen eines Huhns in der Küche vor. Das ist ja auch Fleisch."

Die Universität Heidelberg bietet ihren Studenten seit fünf Jahren zusätzlich eine virtuelle Präparation an. Bundesweit sei das eine einmalige Sache, betont die Präparatorin Sara Doll. Mit ein paar Mausklicks können die Studenten einen Menschen bis auf die Knochenstruktur betrachten und bei Bedarf die dazugehörigen Röntgen- und Computer-Tomografie-Aufnahmen untersuchen. Die klassische Präparation bleibt in der Medizinerausbildung trotzdem unentbehrlich. "Die Studenten brauchen den Präparationskurs, um sich die Schnittbilder der CT-Aufnahmen dreidimensional vorstellen zu können", sagt Christopher Redies, Direktor des Anatomieinstituts I der Universitätsklinik Jena.

Die Rückseite von Leiche 70/10 ist gehäutet. Nur die Fettschicht verwehrt noch den Blick auf die Muskulatur. Sofie, Sandra, Katrin und die anderen sieben Studenten zupfen am Fett, doch es löst sich nicht. Stattdessen flutschen die Pinzetten ab und besprenkeln die weißen Kittel der Studenten. "Am Anfang sind sie alle zu vorsichtig", sagt Larissa Vetter, die Tutorin am Tisch der Leiche 70/10. Sie nimmt sich eine Pinzette, zieht das Fett in die Höhe und sticht es mit einer weiteren Pinzette durch. Ein kurzes Rütteln, schon löst sich das Fett von der Muskulatur. "So müsst ihr das machen", sagt sie in die Runde.

Eine Umfrage des Anatomischen Instituts Heidelberg mit den Teilnehmern des Körperspenderprogramms ergab, dass die meisten Spender ihre sterbliche Hülle aus Liebe zur Medizin zur Verfügung stellen. Nur für wenige Teilnehmer war Geld ausschlaggebend. Seit dem 1. Januar 2004 haben die gesetzlichen Krankenkassen das Sterbegeld gestrichen. Beim Anatomischen Institut der Universität Jena hatte das Folgen. "Der Wegfall des Sterbegeldes führte zu einem sprunghaften Anstieg an Körperspendern", erinnert sich Christoph Redies. Das Institut hat daraufhin die Annahme von Körperspendern seit 2007 ausgesetzt. 1000 Spender stehen noch in der Kartei, das deckt den Bedarf der Uni für die kommenden Jahre. Heidelberg nimmt jedes Jahr neue Spender auf, doch die Plätze sind schnell vergeben. "Sterben ist eben teuer geworden", sagt Kirsch.

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Nach dreistündiger Präparation ist die Arbeit beendet. Die Studenten verpacken die Leiche 70/10 luftdicht in einem Plastiksack. Sandra wäscht sich die Hände. Sie ist nicht umgekippt, ihr ist nicht schlecht geworden, darüber freut sie sich. Das Präparieren ist ihr nahegegangen, die Kälte der Leiche, das Anstoßen an die rechte Hand. "Zu Hause wird mir das alles noch mal durch den Kopf gehen", sagt sie. Ihre Wangen glühen noch immer.

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