Politikwissenschaft:Die großen kleinen Fragen

People walk inside the cuppola of the Reichstag building, the seat of the lower house of parliament Bundestag during sunset in Berlin

Die Kuppel des Reichstags in Berlin, Zentrum der politischen Macht in Deutschland - und damit natürlicher Gegenstand der Politikwissenschaft. Ob diese den großen Fragen der Zeit gewachsen ist oder sich um die eigene Relevanz gebracht hat, darüber wird innerhalb des Fachs heftig diskutiert.

(Foto: Fabrizio Bensch/ Reuters)

Die Politologie erklärt nicht mehr nur die Grundsätze guter Staatsführung, sie erforscht komplexe politische Strömungen und das Verhalten Einzelner. Macht sie sich damit überflüssig? Ein Essay.

Von Kim Björn Becker

Man kann der Politikwissenschaft ja vieles vorhalten, aber sicher nicht, sie sei langweilig. Es geht um Begriffe wie Macht, Interessen, Legitimität - jene Grundstoffe der Politik, die aus einem Wahlabend einen Thriller machen können und aus einem Gesetzgebungsverfahren ein Drama. Die Politologie hilft zu verstehen, warum Rechtspopulisten so starken Zulauf haben, warum ein Querulant wie Donald Trump amerikanischer Präsident werden konnte und warum der Brexit für Großbritannien zum Problem werden dürfte. In einer Zeit, die so politisch ist wie lange nicht, reicht die Bedeutung der Politikwissenschaft weit über die Hörsäle der Republik hinaus.

Glaubt man jedoch jenen Professoren, die mit ihrem eigenen Fach gerade hart ins Gericht gehen, dann ist das Gegenteil der Fall und die Disziplin büßt massiv an Relevanz ein. Im akademischen Betrieb dreht sich der Wettbewerb auch darum, wer die großen politischen Fragen am schlüssigsten erklären kann - und damit abseits vom Fachpublikum in der breiten Öffentlichkeit Gehör findet. Politikwissenschaftler konkurrieren mit Juristen, Historikern, Ökonomen und Philosophen. Und so mancher Politologe befürchtet nun, dass sein Fach dabei keine gute Figur macht.

An die Stelle des Argumentierens und Bewertens ist vielfach das Messen und Rechnen getreten

Die Diskussion begann vor gut einem Jahr. Da hatten die Rechtspopulisten schon so manche Debatte vergiftet, die großen Katastrophen namens Brexit und Trump lagen aber noch im Ungefähren. Unter der Überschrift "Fach ohne Ausstrahlung" kritisierten der Parteienforscher Frank Decker und der Extremismusforscher Eckhard Jesse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre Zunft. Die Politikwissenschaft habe sich "gesellschaftlich und politisch marginalisiert", sie bleibe in der öffentlichen Wirksamkeit hinter den Wissenschaften von Wirtschaft, Recht und Geschichte zurück. Ihre Rolle als normative Demokratiewissenschaft habe die Politologie in großen Teilen aufgegeben und sich zu einer spezialisierten Sozialwissenschaft entwickelt, die sich nicht mehr so sehr mit Werten und Idealen beschäftige, sondern vor allem mit Zahlen und Statistiken.

Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Etliche Lehrstühle im Land ziehen heute quantitative Methoden den qualitativen vor - an die Stelle des reinen Argumentierens und Bewertens ist vielfach das Messen und Rechnen getreten. Grundsätzliche Fragen wie zum Beispiel die nach der idealen Staatsform, die eine Brücke zwischen antiker Staatstheorie und moderner Politikwissenschaft geschlagen haben, sind selten geworden. Stattdessen widmen sich Studenten und Forscher verstärkt hochspeziellen Fragen innerhalb von einzelnen Politikfeldern, die sie dann nicht selten mit Statistikprogrammen angehen.

Umstritten ist nun, ob dieser Trend so schlecht ist wie behauptet. Decker und Jesse finden ihn unheilvoll, und Carlo Masala, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, hat kürzlich in der Zeit noch etwas stärker zugespitzt: Alles sei politisch, "nur die deutsche Politikwissenschaft nicht", schrieb er. Da das Spezialistentum wichtiger geworden sei als der Versuch, politisch relevante Fragen zu beantworten, drohe das Fach zu einer Randdisziplin zu degenerieren.

Die Ansicht, dass Spezialisierung vielleicht nicht ins akademische Verderben, wohl aber in die gesellschaftliche Selbstverzwergung der Politikwissenschaft führt, hat innerhalb der akademischen Gemeinde aber auch teils heftigen Widerspruch provoziert. Und gerade wenn man dieses Fach selbst bis zum Ende studiert hat, muss man mit einem unvermeidlichen Rest an Subjektivität sagen können: Dieser Widerspruch ist durchaus berechtigt.

Mit als Erster stellte sich Sebastian Huhnholz von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität den Kollegen Decker und Jesse entgegen. Er warf ihnen vor, ein Zerrbild zu zeichnen: Ihnen gelte nur die "Sichtbarkeit eines bestimmten Gelehrtentypus als Ausweis von Wirksamkeit", dabei seien hochspezialisierte Politologen längst gern gesehene Talkshow-Gäste und betrieben erfolgreiche Wissenschaftsblogs. In dieselbe Kerbe schlugen die Politik-Professoren Marc Debus, Thorsten Faas und Armin Schäfer: "Erkenntnisse werden nicht dadurch gewonnen, dass sich große Geister mit gewichtigen Fragen beschäftigen und diese dann der verblüfften Öffentlichkeit mitteilen". Obwohl die Politikwissenschaft gern auf klassische Denker zurückgreift, ist sie selbst ein junges akademisches Gewächs. In Deutschland entstand sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg - von Vorläufern wie der 1920 in Berlin gegründeten Deutschen Hochschule für Politik einmal abgesehen. Da verwundert es nicht, dass die ersten Professoren zumeist aus anderen Fächern kamen. Es ist üblich, dass Erstsemester-Studenten zuerst die Konturen ihrer Disziplin erkunden, in der Politikwissenschaft jedoch wird diese Abgrenzung zu ihren Nachbarfächern seit jeher teilweise exzessiv betrieben. Das hat vor allem mit ihrem interdisziplinären Charakter zu tun - eine "reine" Politikwissenschaft hat es nie gegeben.

Gemessen an seiner geringen Größe wirft das Fach einen erstaunlich großen Schatten

In den Fünfzigerjahren setzte dann ein Wandel ein: Die "behavioralistische Wende" stellte erstmals nicht das große Ganze, sondern das Individuum in den Mittelpunkt. Von da an wurde verstärkt das politische Verhalten Einzelner erforscht und damit flossen allerhand quantitative Ansätze in den Methodenkasten der Politikwissenschaftler ein. Diese Trendwende führte mit der Zeit zweifellos immer weiter weg von normativen Fragen, lässt sich aber auch positiv deuten: Als Ausdruck kritischer Selbstreflexion zum Beispiel, als Folge der Einsicht, dass die großen Fragen des Lebens keine großen Fragen wären, wenn sie sich umfassend beantworten ließen - zumal in einer Welt, die immer verflochtener und komplexer wird. Die Politikwissenschaft hat sich auf das besonnen, was sie besonders gut kann: so sehr in die Tiefe zu gehen wie möglich. Im Zeitalter der Industrialisierung haben Aufgabenteilung und Spezialisierung in Fabriken neue Maßstäbe gesetzt, nun passiert dasselbe in der Informationsgesellschaft. Die Politikwissenschaft geht mit der Zeit. Den Vorwurf, sie marginalisiere sich, darf man korrigieren: Sie modernisiert sich nur.

Die Sorge um den Einfluss der Disziplin scheint daher übertrieben zu sein. Vor und nach wichtigen Wahlen klären regelmäßig renommierte Parteienforscher in Nachrichtensendungen und Gesprächsrunden über die Hintergründe auf. Auch über mangelndes Interesse bei jungen Menschen kann die Politikwissenschaft nicht klagen. Im Wintersemester 2015/16 waren bundesweit mehr als 30 000 Studenten in dem Fach eingeschrieben - 21 Prozent mehr als noch Ende der Neunzigerjahre. Die Wirtschaftswissenschaft legte derweil um 17 Prozent zu, die Volkswirtschaftslehre um zwölf Prozent, Jura nur um zwei Prozent. Nur die Historiker haben mehr Zulauf als die Politologen: plus 28 Prozent.

Bei all dem darf man eines nicht übersehen: Die Politikwissenschaft ist eine vergleichsweise kleine Forschungsdisziplin. Lediglich 1540 hauptberufliche Politikwissenschaftler sind an deutschen Universitäten tätig. Bei den Historikern arbeiten doppelt so viele Wissenschaftler, bei den Juristen mehr als dreimal so viele, die Ökonomie ist gar zehn Mal größer. So gesehen, ist die Politikwissenschaft in der Runde vergleichbarer Fächer so etwas wie der kleine Mann. Dafür wirft sie einen erstaunlich großen Schatten.

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