Neues Unterrichtsfach:In Glückskunde durchgefallen

Gewalt in der Schule

An vielen Schulen wird "Glück" als Unterrichtsfach unterrichtet. Nicht immer mit Erfolg.

(Foto: Julian Röder/OSTKREUZ; Collage: SZ)

Glück als Schulfach, klingt nach einer großartigen Idee. Doch in der Praxis stößt die Theorie der Pädagogen schnell an ihre Grenzen.

Reportage von Anne Backhaus

Mark schlägt mit dem ganzen Körper auf dem Fußboden auf. Er ist in hohem Bogen, aus gut zwei Metern Höhe, von seinen Mitschülern hingeschleudert worden. Nun liegt er da, das Gesicht in seinem Arm vergraben. Die ganze Klasse lacht. Mark bewegt sich nicht. Seine Hose ist an den Beinen hochgerutscht und hat seine grauen Sportsocken mit den aufgedruckten Cannabisblättern freigelegt.

Nur eine Mitschülerin kniet sich neben ihn, dann auch die Lehrerin und Lehramtsstudentin Ramona. "Ich glaube, der ist tot", sagt ein Schüler in Jogginghosen. Er sitzt nicht weit von Mark entfernt auf einem Schultisch, die Füße auf dem Stuhl vor sich, der Rücken krumm, das Kinn in seine Hand gestützt. Alle im Raum hören ihn, die meisten lachen nun noch mehr. "Das ist ganz normal bei so einem Schock", sagt Ramona, 24. "Ihr habt euch doch erschrocken, oder?" Stille.

Nahezu alle Beteiligten an dem "Pilotprojekt Glück" in der städtischen Berufsschule in München zucken mit den Schultern oder schauen weg. Zehn Mädchen, acht Jungen, alle um die 15 Jahre. Sie sollen hier im Unterricht lernen, ein glückliches Leben zu führen. Dazu gehört auch, sich selbst und andere ernst zu nehmen, und deshalb versucht sich die Klasse an der Vertrauensübung "über das Seil".

Gemeinsam sollen die Schüler sicher auf die andere Seite eines Seils befördert werden, ohne es zu berühren. Das weiße Tau, in der rechten Ecke des Klassenzimmers über dem Waschbecken festgeknotet, hat Ramonas Kollegin Anja, 32, diagonal durch den Raum gespannt, auf Stirnhöhe der Schüler. Das Ende hält sie fest.

Die Mädchen kichern in einem Halbkreis vor der Tafel, die Jungen heben immer wieder einen aus ihrer Gruppe hoch, zu viert oder fünft, bis über ihre Köpfe, und manövrieren ihn ungelenk über das Seil. Anja und Ramona erheben bald ihre Stimmen gegen das Gebrüll im Raum. Die Jungen rangeln, die Mädchen rufen dazwischen, die meisten landen unsanft: Der Seil-Versuch gerät zum Debakel.

Der Versuch, die Mitschüler sanft über ein Seil zu schieben, geht leider völlig schief

"Wollt ihr nicht mal als Gruppe nachdenken und etwas vorsichtiger vorgehen?", fragt Anja. "Merkt ihr nicht, dass ihr respektlos miteinander umgeht, wenn ihr euch nicht ausreden lasst?", fragte Ramona, als Mark durch die Luft geflogen und auf den Boden geknallt ist. Sie bekommen keine Antworten.

"Das war schon krass", sagt eine Jugendliche mit Nasenring und antoupierten, tiefschwarzen Haaren, die Kapuzenpullijacke bis zur Mitte ihres Dekolletés aufgezogen. "Wie fühlst du dich?" fragt Ramona. Die junge Frau schaut verwundert, fast so, als sei sie das noch nie gefragt worden. "Keine Ahnung. Egal", antwortet sie, rollt die Augen und atmet genervt aus. "Frag ihn doch mal." Ihr Finger zeigt auf Mark. Der ist ziemlich blass, kauert noch auf dem Boden und zuckt mit den Schultern. "Das Vertrauen ist halt jetzt nicht so gut", sagt Jakob. "Ich habe zu keinem Einzigen hier Vertrauen", sagt ein Mädchen.

"Für mich ist das eine Herzensangelegenheit", sagt Lehrerin Anette Schreiber

Ramona und Anja möchten, wie auch ihre Schüler, nicht mit Nachnamen genannt werden. Viele aus der Klasse kennen aber ohnehin nicht mal die Vornamen ihrer Mitschüler. Es ist ihre dritte gemeinsame Glück-Unterrichtsstunde. "Für mich ist das eine Herzensangelegenheit", sagt Lehrerin Anette Schreiber, 56, die die Klasse sonst in Ethik unterrichtet. Das "Pilotprojekt Glück" ist ihren Stunden angekoppelt, da in München "Glück" bisher nicht als eigenständiges Schulfach anerkannt ist.

Vor drei Jahren wurde der neue Unterrichtsstoff über den Verein "Integration - Zukunftsperspektive für Kinder" in Bayern erstmals als Projekt angeboten. Zum Schuljahresstart in diesem Herbst begannen bereits 24 Lehramtsstudenten mit der Glückslehre an sechs Schulen Münchens. Die Gebühren, die Schulen für eine Teilnahme aufwenden müssen, betragen 2500 Euro pro Schuljahr. Schreiber erhofft sich von dem Kurs mit Anja und Ramona konkrete Glücksmomente für ihre Schüler und einen respektvolleren Umgang miteinander.

Wo das Glück wohnt, muss das Ambiente stimmen

Szenenwechsel. Heidelberg. Zu Besuch bei dem Mann, der sich Glückskunde als eigenes Unterrichtsfach für deutsche Schüler ausgedacht hat. "Da, wo das Glück wohnt, muss das Ambiente stimmen", sagt der frühere Schuldirektor Ernst Fritz-Schubert und rückt den Tisch auf der Terrasse seines Hauses in die letzten Sonnenstrahlen des Tages.

Er blickt lächelnd durch den gepflegt verwilderten Garten und auf seinen Feigenbaum. "So etwas kann man sich gut fragen: Würde das Glück jetzt bei mir klingeln, würde es dann gerne hereinkommen? Es gibt nämlich viele Wege zur Lebensfreude." Der 67-jährige Pensionär ist davon überzeugt, dass jeder ein erfülltes Leben führen kann, wenn er lernt, sich darum zu bemühen.

Inzwischen bieten 130 Schulen das Fach "Glück" an

Früher war Fritz-Schubert Schulleiter der Heidelberger Willy-Hellpach-Schule, da habe er viel mit unglücklichen Schülern zu tun gehabt. Er meint damit vor allem die Kinder und Jugendlichen, die verhaltensauffällig waren. Die üblichen Disziplinierungsmaßnahmen hat er aber immer abgelehnt. "Ich begreife mich lieber als Schatzsucher, der das Gute findet, weniger als Fehlerfahnder", sagt Fritz-Schubert.

Als er 2007 das Fach "Glück" an seiner Schule einführte, war das mediale Aufsehen groß, auch die Verwunderung bei den Kollegen. Seitdem folgten Jahr für Jahr weitere Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. 130 sind es inzwischen insgesamt, die Glück als Schul- oder Wahlfach anbieten.

Die Inhalte des Fachs haben weniger mit dem Streben nach permanenter Freude als mit Bewusstseinsentwicklung zu tun. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen jenseits der Anforderungen des Lehrplans einen Freiraum zu geben, in dem sie sich persönlich entfalten können, die Gemeinschaft schätzen lernen und das Handwerkszeug bekommen, ihr Leben aktiv zu gestalten.

"Es ist nicht leicht, Glück zu unterrichten"

"Hier, das ist das Selbst", sagt Fritz-Schubert. In seinen Händen hält er ein rundes Gebilde aus vielen bunten Plastikteilen, die flexibel miteinander verbunden sind. Er zieht an der einen Seite, die einzelnen Teilchen strecken sich und das Gebilde wächst auf die doppelte Größe an. "Wie das Glück", sagt Fritz-Schubert.

"Wenn man das Glück benutzt, wächst es wie ein Muskel und wird größer." Er hält wie zum Beweis die bunte, große Kugel vor seinen Brustkorb, zieht sie noch etwas weiter auseinander und wirft dann das Selbst über den Fußboden. Es rollt, wird dabei immer kleiner und sackt schließlich als Plastikhaufen zusammen. "Der Mensch ist kein Flachkörper", sagt Fritz-Schubert.

Er sagt viele Sätze, wie sie auch in seinen Büchern zu finden sind, die "Schulfach Glück - Wie ein neues Fach die Schule verändert", "Dem Glück auf die Sprünge helfen" oder auch "Glück kann man lernen" heißen. An die 40 000 Bücher hat er verkauft, fast so viele, wie es Lehrkräfte an deutschen Hauptschulen gibt.

Außerdem bietet er über das gemeinnützige Fritz-Schubert-Institut für Persönlichkeitsentwicklung die Weiterbildungen an, die junge Nachwuchslehrer wie Anja und Ramona berechtigen, Glück in der Schule zu unterrichten. Die Ausbildung umfasst zwölf Module, die jeweils anderthalb Tage Gruppenseminar bedeuten und über ein Jahr besucht werden müssen. "Es ist nicht leicht, Glück zu unterrichten", sagt Fritz-Schubert. "Da braucht es Präsenz und innere Wahrhaftigkeit. Eine große Herausforderung für junge Kollegen."

Fazit nach 90 Minuten: "Hier ist kein Grundrespekt da, wir fangen wirklich bei null an."

Anja und Ramona haben heute allerdings eine sehr reale Herausforderung vor sich: die Schüler. "Unser Coach hat gesagt, dass bei der Seilübung noch nie jemand verletzt wurde", sagt Anja, als man sie nach dem Unterricht noch einmal trifft. "Ich bin schockiert. Hier ist kein Grundrespekt vorhanden, und wir fangen wirklich bei null an. Ich habe vorausgesetzt, dass es klar ist, dass man kein anderes menschliches Wesen auf den Boden wirft. Man kann hier aber leider nichts voraussetzen." Neben ihr steht Ramona, sie will die Hoffnung nicht so schnell aufgeben: "Die öffnen sich schon, da kann ein Schuljahr bestimmt viel bringen", sagt sie.

Die Glückskunde stößt an ihre Grenzen

In ihrem Weiterbildungskurs haben sie gelernt, dass für 15- und 16-Jährige Identitätsfindung ein großes Thema ist, genau wie Selbstbestimmung und die Entwicklung von Beziehungen. Viele der Schüler aus der Klasse, die Mark hat auf den Boden fallen lassen, können diese Wörter aber nur mit Mühen buchstabieren und haben in ihrem bisherigen Leben andere Sorgen gehabt. Sie stammen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, einige haben Probleme mit ihren Eltern, mit Beziehungen im Allgemeinen und dem Schulsystem im Speziellen. Diese Schüler müssen hier sein, weil sie keinen Ausbildungsplatz bekommen oder ihren Hauptschulabschluss nicht geschafft haben.

Für sie wäre ein stabileres Selbstwertgefühl tatsächlich eine große Hilfe. Die Glückskunde, die in der Theorie so fantastisch klingt, stößt in der Berufsschulklasse allerdings an ihre Grenzen. Und das Problem ist, dass sich das niemand eingestehen mag.

"Die Jugendlichen bei uns haben so einen geringen Zugang zu sich selbst", sagt die Lehrerin Frau Schreiber. "Man muss ihnen Impulse geben, damit das Bewusstsein geschult wird. Heute scheint so schön die Sonne auf das Laub, das ist doch auch Glück, wenn man da hinschaut." Schreiber schaut durch die zum Schulhof gerichtete Fensterfront in den Himmel.

In ihrem Rücken sitzt Mark inzwischen auf einem Stuhl und kühlt seinen aufgeschürften und blutunterlaufenen Ellenbogen. Die andere Hand hält er an seine schmerzenden Rippen, keiner beachtet ihn. Niemand hat angeboten, mit ihm zu einem Arzt zu fahren. Seine Mitschüler sollen derweil mit einem "achtsamen Ansatz" versuchen, jemanden, ohne ihn zu verletzen, über das Seil zu hieven.

Das Apple-Handy macht eine Schülerin richtig glücklich

Es ist laut und chaotisch, und irgendwann springt Schreiber auf. "Ich breche das jetzt hier ab", sagt sie zu Anja. "Ich bin nämlich auch Sportlehrerin, und so was wird normalerweise nie ohne Matten gemacht, da kann ja immer was passieren." Jakob, der Mark vorhin ausgewichen ist, boxt ihm nun in die unverletzte Seite. "Digger, wie geil, du kannst die Schule verklagen." Jetzt lächelt Mark.

Im letzten Drittel der neunzigminütigen Unterrichtseinheit Glück sollen die Mädchen und Jungen ihre Gefühle zu Bildern äußern, die Ramona vor ihnen auf ein paar Tischen ausgebreitet hat. "Bei welchem fühlt ihr euch gut?" fragt Anja. "Das da", sagt eine blonde, schmale Schülerin und zeigt auf das Logo der Firma Apple. "Ich habe so ein Handy von denen und das macht mich richtig glücklich." Sie greift nach der Fotokarte und strahlt, lässt eine mit Herbstlaub links und eine mit Riesenrad rechts liegen.

Bald unterbricht die Pausenklingel den letzten Versuch von Anja und Ramona, die Schüler zu ihren wahren Gefühlen zu führen. "Immerhin habe ich heute wirklich Glück gehabt, dass mir nichts Schlimmeres passiert ist", sagt Mark und humpelt aus dem Klassenzimmer. In seiner rechten Hand baumelt die Kühlpackung.

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